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Die rechte Protestwelle brechen
10 000 Faschisten waren auf der Straße – wo war die Antifa? Ein Gastbeitrag
Eine faschistische Demonstration dieses Ausmaßes hatte die Hauptstadt lange nicht gesehen, als am vergangenen Samstag über 10 000 AfD-Anhänger durch Berlin demonstrierten. Das Schlimmste daran ist, dass sie es nahezu ungestört tun konnten. Es gab nicht nur keine ernst zu nehmenden Blockadeversuche, woran man sich angesichts des Aufmarschgebietes im Regierungsviertel wohl leider gewöhnt hat – nein, man war selbst zahlenmäßig völlig unterlegen. Die Bekundungen auf Twitter, selbst 10 000 seien nur ein verschwindend geringer Bruchteil der Bevölkerung und »wir sind mehr«, sind Ausdruck der Bequemlichkeit, Hilflosigkeit und Ignoranz. Am Sonntag wurde die AfD dann mit über 10 Prozent in den niedersächsischen Landtag gewählt. Man muss zugeben: Es läuft für die Faschisten. In Schweden, in Italien – und offensichtlich auch hierzulande.
Rechtsradikale, die wissen, was sie tun
In Krisenzeiten lassen sich Abstiegs- und Verlustängste besonders gut abrufen und davon konnten faschistische Bewegungen schon immer profitieren. Genauer: Es ist ihr Kerngeschäft. Angesichts der sich überlagernden multiplen Krisen – Inflation, Energie, Klima, Migrationsregime, Pandemie – bieten rechte Akteure einfache Antworten, indem sie gesellschaftliche Widersprüche kulturalisieren und die Welt mithilfe einer Freund-Feind-Schablone erklären.
Wie die Amadeu-Antonio-Stiftung feststellt, kam es am Samstag nicht zu der diffusen Melange, die man von Querdenken-Protesten kennt. Auf der Straße sei vielmehr das Stammklientel der AfD anzutreffen gewesen, »überzeugte Rechtsradikale, die wissen, was sie tun«: Wohlstands- chauvinisten, Hooligans, Burschenschaftsmilieu, Neonazis.
Das macht das Ausmaß der Demonstration genau genommen noch schlimmer. 10 000 Faschisten. Es wirft zudem ein äußerst unvorteilhaftes Licht auf die mangelhaften Gegenproteste. Berlin mit seiner traditionell großen linken Szene hat versagt. Man hat es nicht einmal versucht. Dabei gibt es doch kaum ein konsensfähigeres Thema, als gegen den Faschismus auf die Straße zu gehen.
Techno ohne Resonanz
Ja, man muss zugeben, es ist nicht sonderlich attraktiv, zwischen Kanzleramt und Gendarmenmarkt Gegenproteste zu organisieren. Zumal, wenn das sogenannte Raumtrennungskonzept der Polizei nur in eine Richtung eingesetzt wird und »Medienschutzbereiche« eingerichtet werden, sich AfD-Anhänger aber frei bewegen können. Es ist aber nicht Job der Polizei, das Demonstrationserlebnis für Rechte unangenehm zu gestalten, sondern der einer linken Zivilgesellschaft. Und viele der sonst aktiven Gruppen haben gar nicht mobilisiert, ein paar nur halbherzig. Warum ist Aufstehen gegen Rassismus ein so breites Bündnis, wenn am Ende niemand kommt? Was war los bei Antifa-Gruppen und (Post-)Autonomen? Gewerkschaften? Wo war Migrantifa?
Gab es 2018, als die AfD in etwa die gleiche Show abzog, neben engagierten Antifa-Protesten noch das hoch gelobte Künstler*innenbündnis »Die Vielen« und eine riesige Technoparade von Reclaim Club Culture, vermochten Letztere dieses Mal kaum jemanden auf die Straße zu bringen. Erzählungen von rechten Großdemos in Berlin, die tatsächlich abgebrochen werden mussten, wirken heute wie ein Kapitel im linken Geschichtsbuch.
Als gesellschaftliche Linke sollten wir diesen Samstag als Warnschuss verstehen und uns eingestehen, dass erfolgreiche antifaschistische Praxis immer noch die notwendige Voraussetzung für alle anderen linken Kämpfe ist. Wenn es im viel zitierten heißen Herbst gelingen soll, ein solidarisches und progressives Projekt auf die Beine zu stellen, darf es keine erfolgreiche rechte Protestwelle geben. Sie muss frühzeitig gebrochen werden. Wenn dies nicht einmal in Berlin klappt, braucht man sich nicht zu wundern, dass im Osten der Republik bereits erneut Zehntausende auf rechten Demos sind.
Das Problem der gesellschaftlichen Linken auch in Berlin ist es, dass sie gute Analysen hat, es ihr aber meist nicht gelingt, diese in die politische Praxis zu überführen. Angesichts der multiplen Krise sollte sie jetzt eine Doppelstrategie verfolgen und inhaltlich auf Umverteilung, Vergesellschaftung und globaler Solidarität – das heißt auch Klimagerechtigkeit – beharren und die Tür für eine lebenswerte Gesellschaft für alle aufstoßen.
Ohne Antifa ist alles nichts
Die Balance zwischen erreichbaren Zielen, die das Leben der Menschen tatsächlich verbessern, und wirklich radikalem Gesellschaftsumbau – Transformation – ist gewiss nicht leicht zu finden. Doch bringt es sicher nichts, Sozialdemokratie zu spielen, um zum Status quo ante vor Corona, Ukraine-Krieg et cetera zurückzukehren. Die Linke darf aber bei all dem, und das ist der zweite Punkt, nicht das rechte Projekt weiter an Fahrt gewinnen lassen, sondern muss rechte Umtriebe immer und überall in die Schranken weisen. Antifa ist nicht alles, aber ohne Antifa ist alles nichts.
Christian Meyer ist Soziologe und freier Journalist aus Berlin. Er ist aktiv in sozialen Bewegungen, weil es ums Ganze geht.
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