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Die Schattenseite von Mount Vernon
Auf dem Landsitz des ersten Präsidenten der USA schufteten Sklaven. Die Erinnerung daran ist noch immer nicht selbstverständlich
Blauer Himmel, 18 Grad: Über Mount Vernon, dem Landsitz von George Washington (1732-1799), geht die Morgensonne auf. Das Anwesen des ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten am nahen Potomac River ist atemberaubend: alte Eichen, sanfte Hügel, Blumenbeete und Obstplantagen. Besuchergruppen schlendern auf den fein geharkten Sandwegen, Schulklassen nerven ihre Lehrerinnen.
An diesem idyllischen Ort samt dreigeschossigem Herrenhaus mit 21 Zimmern im Kolonialstil lebte einer der Gründerväter der USA mit seiner Familie. Und gleich nebenan mussten für Washington über 300 versklavte Menschen Zwangsarbeit leisten.
Da ist zum Beispiel das Gewächshaus mit riesiger Fensterfront. Washington hatte ein solch modernes Treibhaus in Baltimore gesehen und sich die Pläne dafür schicken lassen. Draußen blühen Gladiolen, Rembrandt-Tulpen, Brombeerlilien und Schmetterlingskraut, drinnen ist es warm genug für leuchtende Oleander, Bananen- und Limonen und sogar für Kaffee-Pflanzen. Rechts und links direkt daneben lebten in zwei engen Behausungen etwa 60 Sklaven – Männer und Frauen getrennt – ohne jegliche Privatsphäre. Man müsse sich das irreale Nebeneinander vergegenwärtigen, sagt Matt Briney: »Dort ist das Gewächshaus, wo George Washington mit Tropenpflanzen experimentierte. Und eine Wand entfernt waren versklavte Menschen untergebracht, deren Kinder auf dem Boden schliefen.« Briney arbeitet als Vizepräsident für die »Mount Vernon Ladies’ Association«, die Eigentümerin der Gedenkstätte mit fast 400 Angestellten. Seit 1860 ist diese nationale Pilgerstätte in Privatbesitz und wird nicht – wie sonst bei national bedeutsamen Kulturdenkmälern in den USA üblich – vom staatlichen National Park Service geführt.
Vor der Covid-19-Pandemie pilgerten jährlich eine Million Menschen zu diesem nationalen Heiligtum, das nur 20 Kilometer südwestlich von Washington DC im Bundesstaat Virginia liegt. Ein riesiges Gelände: Auf 200 Hektar, das entspricht etwa 280 Fußballfeldern, sind neben dem Gutshaus auch Stallungen zu besichtigen, Parks und Gärten, eine Whiskey-Destillerie, ein Fischereibetrieb und Werkstätten. Erst in den 1990er Jahren wurden die einfachen Sklavenbehausungen restauriert und für die Öffentlichkeit freigegeben.
»Das Anwesen war nicht nur repräsentativer Wohnsitz des Präsidenten, sondern auch eine florierende Plantage«, erklärt Briney. Und die wurde mit einer Heerschar von versklavten Menschen am Laufen gehalten werden. Die leisteten körperlich schwere Arbeit, um einen so großen Betrieb wie Mount Vernon am Laufen zu halten. Sie schufteten bis zur 14 Stunden am Tag auf den Feldern, trieben das Vieh zusammen, kochten und putzten für die Hausherren, mussten harte körperliche Strafen hinnehmen, wenn sie sich dagegen wehrten.
Wer sich Zeit nimmt und nach der Besichtigung des Herrenhauses den Sandweg Richtung des Flusses Potomac geht, kommt an zwei sehr unterschiedlichen Grabstätten vorbei. Im Wald nahe dem Flusslauf befindet sich das mit Marmor geschmückte Familiengrab von George Washington und seiner Frau Martha. Ein Sternenbanner und die persönliche Flagge des Generals Washington flattern im Sonnenlicht. 200 Meter davon entfernt: ein weiteres Grab. Bis 1860 wurden hier mehrere Hundert Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner anonym beigesetzt. Zarte Markierungen aus Zweigen zeigen Spuren von Gräbern am Boden. Das alles war bis 1983 ungepflegt, von Gestrüpp überwuchert und für Besucher nicht erkennbar. Einst verborgener Schandfleck der Sklaverei, heute ein Ort des stillen Gedenkens. Erst 200 Jahre nach dem Tod Washingtons wurden hier auf Drängen der afroamerikanischen Gemeinschaft die Spuren auf den Gräbern gesichert und ein massiver Gedenkstein aus Sandstein errichtet.
Der Gründervater der USA als Sklavenhalter – eine Tatsache, mit der sich die Nation und die Kuratoren von Mount Vernon nur langsam anfreunden konnten. Thomas Jefferson, James Monroe, Andrew Jackson, Ulysses S. Grant und eben George Washington – zwölf von 18 US-Präsidenten zwischen 1789 und 1877 waren Sklavenhalter. Damals war die Sklaverei eine Institution, ein System der Ausbeutung, in dem man Menschen wie Eigentum besaß und sie mit körperlicher und seelischer Gewalt unterdrückte; ein System, das Menschen wie George Washington rechtfertigten, obwohl sie wussten, dass Sklaverei moralisch falsch war.
Die Restaurierung des verfallenen ehemaligen Sklavenfriedhofs war der Start für die öffentliche Aufarbeitung. 1993 wurde auf Mount Vernon die erste »Slave Life Tour« angeboten. Heute erzählen Guides wie die Afroamerikanerin Brenda Parker über den Alltag der versklavten Menschen auf Mount Vernon. Washington führte penibel Buch über Ernten und erwirtschaftete Güter. Akribisch erfasste er die Anzahl und die Fähigkeiten versklavter Menschen auf dem Landgut, wer im Laufe der Jahrzehnte ge- und verkauft wurde. Der Besitz versklavter Arbeitskräfte half Washington, seinen Lebensstil zu halten und brachte ihm Zeit und Raum, um sich dem zu widmen, was er am liebsten tat: lesen, schreiben, seine landwirtschaftlichen Ideen umsetzen und Gäste empfangen. Er war ein penibler Buchhalter, der festhielt, welche Rationen er an die Versklavten am Tag, pro Monat, im Jahr ausgab.
Ihre Rolle sehe sie darin, all jenen, die als stumme Zeugen in historischen Tabellen und Aufzeichnungen auftauchen, eine Stimme zu geben, erklärt Parker. Einige Familien seien auf Mount Vernon über Jahrzehnte und Generationen versklavt worden, ohne dass man irgendeine direkte Äußerung von ihnen gefunden habe. Was machten diese Familien, die hier lebten, dem Schrecken und der Unterdrückung der Sklaverei zum Trotz?, fragt Parker und weiß die Antwort: »Sie bemühten sich, ein quasi normales Leben zu führen zwischen Rechtlosigkeit und Willkür. Damals galten sie nicht als Menschen, sie wurden wie Inventar registriert. Sie wurden wie Möbelstücke mal hier und mal dort hingeschoben.«
Auch auf Mount Vernon gehörte es zum Alltag, Familien unter der Sklaverei zu trennen. Das war keine Nebensächlichkeit, sondern eine unmenschliche Maßnahme, wenn die Kinder eines Paares verkauft oder Ehen auseinandergerissen wurden. Historiker haben errechnet, dass bis zum Bürgerkrieg 1860 etwa eine Million versklavte Menschen in den Nord- und Südstaaten verkauft wurden. Das bedeutete: Etwa ein Viertel aller afroamerikanischen Ehen wurden zerstört und Kinder unter dreizehn von ihren Eltern getrennt. Auch davon erzählt Brenda Parker – und von vereinzeltem, mutigem Aufbegehren.
»Washington selbst«, sagt Mitarbeiter Matt Briney, »hielt sich für einen gütigen Sklavenhalter, aber seine moralischen Ideale kamen erst an zweiter Stelle«. Wohl kein Zufall: Von den vielen Besuchern, die alljährlich nach Mount Vernon kommen, entscheidet sich nur etwa jeder Zehnte für die Tour, die von den versklavten Menschen auf dem Anwesen Washingtons handelt. Historische Orte wie diese, resümiert Brenda Parker, werden oft von Leuten besucht, die kaum oder keinerlei Hintergrundwissen besäßen. Deshalb erzählt Parker auf ihren Touren von der anderen, unbekannten Seite Washingtons als Sklavenhalter. Manche Besucher meinen, man würde den Gründervater der Nation damit schlecht machen. Aber: Von der Stunde an, in der Washington morgens in seinem Himmelbett aufstand, bis zum Abend verließ er sich auf Zwangsarbeit, beutete versklavte Menschen aus, vermietete und verkaufte sie.
Bis heute ein Renner bei den Besucherinnen und Besuchern: George Washingtons Gebiss. Der ruhmreiche General im Unabhängigkeitskrieg und Mitautor der Verfassung – er hatte schlechte Zähne. Die ersten verlor er als 24-Jähriger, vermutlich als Folge einer Krankheit. Gute Zähne waren damals eine Voraussetzung für die rhetorische Durchschlagskraft. Also mussten Zahnprothesen her. George Washington gab mehrere in Auftrag. Als Rohmaterial dienten neben Elfenbein, Pferde- und Kuhzähnen auch echte Menschenzähne. Deren Lieferanten waren nicht nur Verstorbene, sondern – wie die detaillierten Haushaltungsbücher Washingtons zeigen – auch versklavte Menschen.
Es ist Nachmittag geworden, das strahlend weiße Herrenhaus mit seinen Nebengebäuden wirft lange Schatten auf den gepflegten Rasen. Das Nebeneinander von leuchtendem Heldentum und finsterer Sklaverei, dem Streben nach Freiheit und der Brutalität der Zwangsarbeit macht Mount Vernon zu einem ambivalenten Denkmal der amerikanischen Geschichte.
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