Vertuschen mit System

Grenzschutzagentur Frontex führte laut Untersuchung interne Kontrollinstanzen systematisch hinters Licht

  • Fabian Lambeck, Brüssel
  • Lesedauer: 4 Min.
Festung Europa: Die Grenzschutzagentur Frontex ist ein Instrument der Abschottung der EU gegen Menschen aus ärmeren Teilen der Welt.
Festung Europa: Die Grenzschutzagentur Frontex ist ein Instrument der Abschottung der EU gegen Menschen aus ärmeren Teilen der Welt.

Dieser Bericht ist so brisant, dass er unter Verschluss bleiben sollte. Doch am vergangenen Freitag kursierte der »Final Report« der EU-Anti-Korruptionsbehörde OLAF in der Brüsseler Journalistenblase. Auch beim »nd« landete eine Kopie dieses Berichts, der den Frontex-Chef Fabrice Leggeri im April dieses Jahres zu Fall gebracht hatte. Der mehr als 120 Seiten umfassende Report war bislang einer kleinen Gruppe von Eingeweihten bei Kommission, Parlament und Frontex zugänglich. Jetzt ist auch klar, warum: Der Bericht zeigt deutlich, dass führende Frontex-Beamte ein System der Verschleierung aufgebaut hatten, um die Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen zu vertuschen. Aufgabe der Agentur mit Sitz in Warschau ist es eigentlich, die EU-Staaten bei der Überwachung ihrer Außengrenzen zu beraten und den Grenzschutz zu optimieren. Dafür stehen den derzeit rund 2000 Frontex-Angehörigen moderne Boote, Flugzeuge, Drohnen und geländegängige Fahrzeuge zur Verfügung.

Dass die Beamten bei ihren Missionen vor Ort auch Zeugen von gravierenden Rechtsverletzungen werden, ist lange bekannt. Doch offiziell leugnete die Behörde dies stets. Der OLAF-Bericht zeigt nun deutlich, wie systematisch Frontex die internen Kontrollinstanzen hinters Licht führte. So gibt es bei Frontex einen Beauftragten für Grundrechte (FRO), der bei heftigen Verstößen aktiv wird. Doch Frontex-Beamte gaben die Informationen über mögliche Menschenrechtsverletzungen bewusst nicht weiter, wie die Untersuchungen von OLAF belegen. Dabei manipulierte man das interne Meldesystem für »schwerwiegende Zwischenfälle« (SIR). Hier können Beamte melden, wenn sie Zeugen von Grundrechtsverletzungen werden oder gar selbst darin involviert sind.

Dieses System umfasst vier Kategorien, wobei bei einem Vorfall der Kategorie 4 automatisch der Grundrechte-Beauftragte tätig wird. Es ging also darum, die beobachteten Vorfälle möglichst niedrig einzustufen. OLAF listet gleich mehrere Beispiele auf: So habe Maltas Küstenwache Schlauchboote »Richtung Italien geschleppt«. Ein Frontex-Flugzeug hatte die Schlauchboote mit »250 Migranten ohne Schwimmwesten« zuvor entdeckt und sie den Behörden Maltas gemeldet. Malta verweigerte die Zusammenarbeit. Stattdessen landete eines der Boote »mit 51 Überlebenden und 5 Toten an Bord« wieder in Libyen, von wo die Migranten ursprünglich gestartet waren. Frontex tat alles, um den Vorfall zu vertuschen und die FRO-Abteilung rauszuhalten. Dazu ordnete man das Geschehen als Vorfall der niedrigen Kategorie 2 ein.

Ein weiteres Beispiel für die systematische Vertuschung ist ein Vorfall in Griechenland aus dem Mai 2020. Hier beobachteten Frontex-Beamte in einem Patrouillen-Flugzeug, wie die griechische Küstenwache Geflüchtete aus einem Schlauchboot an Bord nahm, um diese später in türkischen Hoheitsgewässern wieder auszusetzen, »ohne Rettungswesten«, wie der Bericht betont. In einer Befragung durch OLAF verwiesen die Verantwortlichen auf Spannungen zwischen der Türkei und Griechenland. Diese hätten es schwer gemacht, »in Echtzeit zu beurteilen«, ob das Schlauchboot »tatsächlich Migranten transportierte oder nicht doch türkische Soldaten oder gar Terroristen«. Eine abenteuerliche Rechtfertigung für das Wegschauen. Später wurde das Frontex-Flugzeug übrigens verlegt. Somit kann die griechische Küstenwache ihre Pushbacks nun unbeobachtet durchführen.

Obwohl Artikel 46 der Frontex-Verordnung festlegt, dass sich die Beamten bei »schwerwiegenden oder voraussichtlich weiter anhaltenden Verstößen gegen Grundrechte« aus den gemeinsamen Operationen zurückziehen müssen, führte Frontex die Einsätze weiter. Ein klarer Verstoß gegen die eigenen Regularien. Zudem offenbart der Bericht, dass Kommission und Parlament von führenden Frontex-Kadern als Gegner gesehen werden. Demnach hätten Mitglieder der Grenzschutzagentur das für die Kontrolle zuständige Parlament mindestens 11-mal belogen.

Frontex selbst behauptet jetzt: Man nehme die Untersuchungen sehr ernst und nutze sie »als Gelegenheit, Veränderungen zum Besseren vorzunehmen«. Doch nicht nur Menschenrechts-Organisationen bezweifeln, dass sich an den Zuständen etwas ändern wird. Die Zeichen in der EU stehen auf Flüchtlingsabwehr. Frontex soll die Abwehr koordinieren und deshalb weiter wachsen. Dafür stellt die EU Milliarden bereit.

Für die Agentur selbst kommt das Leak zur Unzeit, denn am heutigen Dienstag soll das Parlament für die Entlastung des Frontex-Haushalts 2020 stimmen. Die Linke-Europaabgeordnete Cornelia Ernst fordert dazu auf, der Agentur diesen Gefallen nicht zu tun: »Ein Votum gegen die Entlastung ist die einzig plausible Position für jeden, der die Menschenrechte ernstnimmt. Das Europäische Parlament darf nicht zum Komplizen einer Agentur werden, die seit Jahren völlig außer Kontrolle geraten ist.« Das Parlament hatte im Mai gegen eine Entlastung des Haushalts 2020 votiert und die finale Abstimmung auf den Herbst vertagt. Man habe den OLAF-Bericht nicht einsehen dürfen und könne deshalb keine sachkundige Entscheidung treffen, hieß es damals. So darf man gespannt sein, wie die Abgeordneten abstimmen werden.

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