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Auftauen im Eis
Gegen das Schauermärchen von den zwei Geschlechtern: Kim de l’Horizon, non-binär und aus der Schweiz, hat mit »Blutbuch« den Deutschen Buchpreis gewonnen
Transgender olé – das vielleicht letzte Emanzipationsversprechen der spätestbürgerlichen Gesellschaft, in der sonst nur noch das Geld keine Grenzen mehr kennt. Alles andere wird eingegrenzt und abgegrenzt und ausgegrenzt, damit die Menschen glauben, irgendetwas wäre noch normal – im Klimawandel, im Ukraine-Krieg oder in Politik. In den schlechten Zeiten ist es ein gutes Zeichen, dass Kim de l’Horizon, Jahrgang 1992 und aus der Schweiz, für den Roman »Blutbuch« den Deutschen Buchpreis gewonnen hat. Es ist die Idee von Liberalität, an die sonst kaum noch jemand glauben mag, wenn man sich unentwegt in gut oder böse / entweder oder dichotomisch einzusortieren hat. Weil vom Gegensatz arm / reich niemals gesprochen werden darf, da sind die Eigentumsverhältnisse vor, das Grundgesetz des freien Westens, der deshalb zunehmend unfreier wird.
Am Montagabend in Frankfurt am Main, als »Blutbuch« im Kaisersaal des Römer zum besten deutschsprachigen Roman des Jahres gekürt wurde, hatte Kim de l’Horizon keine Dankesrede vorbereitet, sondern rief nur »Wow!« und sang später »Nightcall«, ein Lied von Kavinsky: »There’s something inside you / It′s hard to explain / They’re talking about you, girl / But you′re still the same«. Im Original heißt es »boy«. Der Roman war der Außenseiter unter den Titeln auf der Shortlist: experimenteller und gewagter geschrieben, Kim de l’Horizon hat zehn Jahre daran gearbeitet.
Es ist ein programmatischer Text: Kim de l’ Horizon definiert sich als non-binäre Person und erzählt, was das heißt – vor allem für die Familie. Denn »Blutbuch« ist in großen Teilen ein Briefroman, geschrieben an die Großmutter, die das allerdings niemals lesen wird, denn sie ist schon ziemlich dement. Es gibt keine Antwort. Die Großmutter bleibt eine abstrakte Instanz, an die man sich nur noch erinnern kann. Und damit an sich selbst, wie man wurde, was man ist. Vor allem aber geht es um die Frage, wie und was man schreibt. »Blutbuch« handelt von nichts anderem. Dabei gibt es für Kim de l’Horizon kein »man«, sondern nur ein »mensch«.
Und Großmutter heißt »Großmeer«, Mutter heißt »Meer« und Vater »Peer«, so sagt man im Berner Deutsch, mit dem Kim de l’Horizon aufgewachsen ist. Mit diesen Wörtern kann man assoziativ gut spielen: fluten, austrocknen, vereisen und so weiter. Die Mutter ist Frisörin: »Meers Arbeit ist eine riesige Dauerwelle. Die Dauerhaarwelle hat kein Ufer.« Sie muss immer arbeiten und deshalb wünscht sich ihr Kind, dass den Menschen die Haare ausfallen mögen, damit sie damit aufhören kann. Etwas anderes ist tatsächlich gestoppt: die patriarchale Linie. Und damit ist auch die Frage nach der Entscheidung für ein Geschlecht, sei es hetero oder homo definiert, für überflüssig erklärt: »Wenn Mensch daran glaubt, dass es zwei Geschlechter gibt und dass mensch auf dasselbe Geschlecht steht; und dieses Schauermärchen von bloss zwei Geschlechtern, von zwei unschmelzbaren Gletschern, die genau das Gegenteil voneinander seien, das erzähle ich nicht weiter. Ohne mich, ihr Bäcker des Bestehenden.«
Und ohne Vater. Das ist das Gute an »Blutbuch«, dass der Vater absolut keine Rolle spielt, eine bloße Nebenfigur, die auch irgendwie da war, an der sich aber nicht wie sonst in der deutschsprachigen Literatur abgearbeitet werden muss, sei es, dass sie so streng und brutal ist, so voller Erwartungen oder so gebrochen, zerstört, abgemeldet oder niemals anwesend. Die geradezu gespenstische Vaterfigur ist in der autofiktionalen Literatur sehr beliebt. »Wer hat meinen Vater umgebracht?« heißt ein Büchlein des französischen Starautoren Édouard Louis von 2019. Kim de l’Horizon interessiert sich nicht dafür. »Blutbuch« ist ein fast vaterloser Roman, in dieser Hinsicht sehr emanzipatorisch. Nur der Urgroßvater, ein reicher Bauer, spielt eine Rolle.
Doch mit der Großmutter muss sich schon genug auseinander gesetzt werden. Sie ist so alt wie die Blutbuche, die in ihrem Garten steht, die zu ihrer Geburt vom Urgroßvater gepflanzt wurde. Der Garten als Ort der Zurichtung und Klassifikation: Die Nazis hielten die Blutbuche für eine »der schönsten Parkbäume«, Kim de l’Horizon führt hier Überlegungen des deutschen Landschaftsarchitekten Heinrich Friedrich Wiepking an, eines Sonderbeauftragten Heinrich Himmlers für »deutsches Volkstum«, der daran glaubte, »dass das Germanentum auch im Boden ist«. Er arbeitete im Krieg und unbescholten nach dem Krieg: »1943 betreute er eine Diplomarbeit über die Begrünung von Auschwitz. Und 1952 half er bei der Landschaftsgestaltung der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen.«
Auch die Großmutter ist Rassistin und auch sonst aggressiv und bedrohlich, ein »Drachen«, voller Feuer, weshalb ihre Tochter eine »Eishexe« werden musste, um zu überleben. Um den Preis der ewigen Kälte zu ihrem eigenen Kind, das nun davon berichtet. Damit die Mutter beziehungsweise »die Meer« aus der Eishexe auftaut, kann das Kind sehr mutig sein: »Man muss zur Eishexe hin. Wie wenn man durch Eisstürme nach Hause geht« und eine Hand nehmen und Geduld haben. »Das Auftauen ist ein kleiner Zauber. Weil er so langsam ist. Aber es ist der wichtigste aller Heilzauber. Von denen, die das Kind kann.« Aus diesem Grund sei dieser Roman auch »mein Buch der Angst« und nicht etwa eins der Scham, auch wenn die Erzählstimme bekundet, es sei ihr klar, »dass auch ich ein Körper der Scham bin, ein ganzes Archiv davon«. Doch ebenso klar ist: »Ich werde mein Buch der Scham ein anderes Mal schreiben müssen.« Denn dieser Roman ist ein Kunstwerk, kein abschließendes Statement. Philosophisches Problem am Rande: »Ich war nie mein Körper. Er war zu sehr dieses oder jenes, aber niemals ›ich‹.«
Auftauen nach vielerlei Eisstürmen, darum geht es im »Blutbuch«, einer großen Sammlung von Ideen, Assoziationen, Scherzen, Situationen und Reflexionen. An sich sind das ausgearbeitete Notizen, die aber sehr gut formuliert und stilbewusst geordnet sind, was das Buch literarisch bemerkenswert macht. Und damit die durchaus tiefgründigen und anrührenden Familienbetrachtungen nicht zu melancholisch und langweilig werden, mischt Kim de l’Horizon die ganze Zeit lebhafte Sexszenen mit Männern hinein: »Ich spüre meinen Körper nur, wenn ich ihn fortgebe, wenn ich ihn anderen anbiete, jemensch in mich eindringt, die selbst errichteten Grenzen meines Körpers durchdringt und sich dahinter hinterlässt. Ich habe nicht primär das Bedürfnis, Schwänze in mir zu spüren, ich habe das Bedürfnis, mich zu spüren, jenen pulsierenden Mantel um die Schwänze.«
Aus dramaturgischen Gründen verändert sich in diesem Buch auch die Schrift (bis hin zu faksimilierten Manuskriptseiten) und im letzten Teil wird nur auf Englisch geschrieben, weil es anders nicht zu formulieren sei, heißt es lapidar (doch es gibt eine Übersetzung im Anhang). Eine sehr gute Geste machte Kim de l’Horizon am Montag bei der Preisverleihung. The winner takes it all und rasierte sich auf der Bühne die Haare ab, als Zeichen der Solidarität mit den Frauen im Iran, »um ein Zeichen zu setzen gegen den Hass, für die Liebe, für den Kampf aller Menschen, die wegen ihres Körpers unterdrückt werden«.
Kim de l’Horizon: Blutbuch. DuMont, 336 S., geb., 24 €
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