Besser als Krieg oder Knast

Ein russischer Kriegsdienstverweigerer berichtet von der Flucht nach Kasachstan

  • Emil Herrmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Anstellen für kasachische Unterlagen in Uralsk. Über 200000 Russ*innen sind seit dem Beginn der Mobilmachung in das Nachbarland geflohen.
Anstellen für kasachische Unterlagen in Uralsk. Über 200000 Russ*innen sind seit dem Beginn der Mobilmachung in das Nachbarland geflohen.

»Als der Krieg ausbrach, habe ich mit vielen anderen Künstlern und auch Lehrenden an Universitäten darüber diskutiert, wie es für uns weitergehen soll. Ich habe mich geweigert zu gehen. Ich fühlte eine Verantwortung, eine Mission für die Entwicklung der Kultur in Russland«, erzählt Greg in einem wackeligen Videochat, der immer wieder abbricht. Als Russland Ende Februar die Ukraine überfiel, entschied sich der 30-jährige Sänger der Rockband Junkyard Storytellaz, in Sankt Petersburg zu bleiben. Viele, die damals schon gingen, kritisierten ihn, meinten, das käme einem Einverständnis mit dem Krieg gleich. Mit der Mobilisierung wurde schließlich die Mission geändert, »ohne unser Einverständnis«, meint Greg. 

Wie viele andere Russen machte sich der Sänger auf den Weg nach Kasachstan, allein in den ersten zwei Wochen nach der Mobilisierung sollen es 200 000 gewesen sein. Zwei der drei Freunde, mit denen Greg floh, mussten befürchten, sofort eingezogen zu werden. Diese unmittelbare Gefahr bestand für ihn zwar nicht, dennoch war er beunruhigt. »Als wir das Land verließen, berichteten Massenmedien von der Mobilisierung von einer Million Männern, und auch von chaotischen Festnahmen im Zentrum von Sankt Petersburg war die Rede«, sagt er. 

Der Weg hinaus aus der zu einer Bedrohung gewordenen Heimat war voller Hindernisse. Eine Woche nach Beginn der Mobilisierung flogen die Musiker ins grenznahe Saratow. Danach ging es mit einem angeheuerten Fahrer weiter zur kasachischen Grenze. Als sie zehn Kilometer vor dem Ziel im Stau standen, kursierten in den Medien Gerüchte über die Grenzschließung für Männer zwischen 17 und 35. Im Stau kam er sich »wie im Film ›Madmax‹« vor, erzählt Greg. Leute kochten Essen über dem offenen Feuer. Andere versuchten abseits der Straße an die Grenze vorzufahren. Greg sah, wie Leute, die sich ihnen in den Weg stellten, einfach überfahren wurden. Nach zwei Tagen im Stau entschlossen sich die Freunde, zu Fuß weiterzugehen. Dort fanden sie eine Frau, die sie für 100 000 Rubel (1600 Euro) in ihrem Auto nach Kasachstan brachte.

Die erste Station für die aus dem Alltag gerissenen Künstler im Nachbarland war die nahe der Grenze gelegene Stadt Uralsk. Für den überhöhten Preis von umgerechnet circa 100 Euro pro Nacht schliefen sie dort auf dem Boden eines unmöblierten Zimmers. Außerhalb der notdürftigen Unterkunft war es nicht viel angenehmer. Für die Kleinkriminellen der Stadt waren die frisch angekommenen Russen ein leichtes Ziel für Provokationen. Einer Schlägerei entkamen sie nur, weil Einheimische eingriffen. 

Nach einigen Tagen ging es für die vier weiter nach Aktau. Die 200 000-Einwohner-Stadt am Kaspischen Meer gilt als sehr rau. Im Januar begannen hier die landesweiten Aufstände gegen die kasachische Regierung. In Uralsk hatte man sie deshalb gewarnt. Doch die Stadt erwies sich als friedlich und ruhig. Einheimische Russen unterstützen die Geflüchteten bei der Suche nach einer Unterkunft und bei den Behördengängen. Das Geld zum Überleben bekommen sie von Freunden und über eine Crowdfunding-Aktion. 

Trotz der Hilfe in Aktau war für Greg und seine Freunde klar, dass Kasachstan nur eine Zwischenstation ist. Nach Angaben des kasachischen Innenministeriums kommen immer noch jeden Tag 8000 bis 9000 Russ*innen ins Land, zugleich reisen auch 10 000 bis 11 000 täglich aus. Auch die Musiker sind mittlerweile nach Armien weitergereist, wo sie für drei Monate im Haus von Verwandten unterkommen können. Danach wollen sie nach Deutschland oder Frankreich.

Doch Zukunftspläne zu schmieden, sei gerade schwer, gesteht Greg. »Wir versuchen von Tag zu Tag zu leben. Sich jetzt Gedanken zu machen, ist mental einfach zu anstrengend. Die meisten von uns wollen so schnell wie möglich wieder zurück nach Russland.« Das geht nicht, zu groß ist die Gefahr, vielleicht doch eingezogen zu werden. »Ich kann nicht auf Ukrainer schießen. Mein Großvater ist aus der Ukraine, und ich habe Verwandte dort.« Selbst wenn der Krieg vorbei ist, kann eine Rückkehr nach St. Petersburg gefährlich werden. Greg befürchtet eine revanchistische Stimmung in der russischen Gesellschaft. Insbesondere für Kriegsdienstverweigerer ein bedrohliches Szenario. 

Als unabhängiger Künstler bewegt man sich derzeit in Russland zwischen Krieg und Knast, meint Greg. Die Staatsgewalt wird immer erdrückender. Die Angst vor drakonischen Strafen ist auch ein Grund für die ausbleibende Gegenwehr von Kriegsgegner*innen innerhalb des Landes. »Das Beste, was wir derzeit tun können«, hält Greg fest, »ist, uns einander zu helfen und uns im Ausland zu organisieren und zu koordinieren.«

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