- Kultur
- Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse
Die rätselhafte Generation
Die »Neuen« haben das Zepter in der Bubble Berlin übernommen
Sie sind nicht jung, aber auch noch nicht alt. Weder »Generation Merkel« noch völlig neu in der Politik. Sie wuchsen – zumindest im Westen – im Wesentlichen verschont von existenziellen Krisen auf. Der 11. September 2001, Finanz- und Euro-Debakel, sogenannte Migrationskrise, selbst die Corona-Pandemie betrafen sie eher indirekt, zumindest ohne politische Verantwortung. Auch das heimische Jahrhundertereignis Deutsche Einheit haben die meisten von ihnen, weil sie aus dem Westen stammen, nur von weiter Ferne betrachtet. Und jene, die Verwerfungen im Osten miterlebten, waren noch Kinder oder Teenager, höchstens junge Erwachsene, um die herum die großen Veränderungen passierten.
Jetzt sitzt ein Teil von ihnen an den Schalthebeln der Macht: In Landes- oder Bundesparlamenten. Oder in Ministerien. Oder ganz und gar in der Regierung. Die Rede ist von der Generation X, geboren zwischen 1965 und 1980, die seit der Bundestagswahl 2021 in vielen Schlüsselpositionen der Bundesrepublik das Sagen hat und auf deren Spuren sich Anna Sauerbrey in »Machtwechsel: Wie eine neue Politikergeneration das Land verändert« begibt.
Das mit der im Titel angekündigten Landesveränderung ist allerdings ein zu hoher Anspruch, denn Anfang 2022, als die Autorin ihre Recherchen beendete, war vom Ukraine-Krieg und den daraus entstehenden Problemen auch in der Bundesrepublik für die Neuen im Kanzleramt noch keine Rede.
Die Auf- und Ausrüstung der Bundeswehr, der Streit um Waffenlieferungen an die Ukraine, Gasumlage oder -deckelung, horrend steigende Strom- und Lebensmittelpreise trieben weder Christian Lindner noch Robert Habeck und Annalena Baerbock um. Auch Hubertus Heil, Carsten Schneider, Katja Kipping, Lars Klingbeil, Cem Özdemir, Konstantin von Notz und Marco Buschmann konnten da noch nicht ahnen, was ihnen bevorsteht. Weshalb der »Machtwechsel« auch eher zur Bestandsaufnahme generationeller Befindlichkeiten denn zur Analyse oder gar Auseinandersetzung mit der tatsächlichen Politikgestaltung der Nachfolger von Angela Merkel geriet.
Anspruch und Wirklichkeit prallen noch nicht so heftig aufeinander wie nur Tage oder Wochen später. Doch kann der Einblick in das Ticken der Generation X bei der Beurteilung des jetzigen und künftigen Ampelblinkens durchaus hilfreich sein. Dabei muss man ja nicht ein so vernichtendes Urteil fällen wie Gesine Schwan, Mitglied der SPD-Grundwertekommission: eher eine Kohorte denn Generation, nicht geprägt von einem bestimmten historischen Ereignis, einer gemeinsamen Erfahrung, alle »ziemlich flexibel«, »unideologisch«, mit fehlendem klaren Wertegerüst und längerfristigem Ziel, »keine Überzeugung, kein Weltbild, nichts Durchbuchstabiertes«, gibt Schwan stakkatoartig und in gewohnter Unerbittlichkeit zu Protokoll.
Sozial- und Bildungswissenschaftler Klaus Hurrelmann erklärt, dass das alte Schema »rechts gegen links, progressiv gegen konservativ« für Vertreter der Generation X kaum mehr Bedeutung habe. Politiker dieser Altersgruppe seien »nicht festgelegt«. Was man wahlweise Pragmatismus oder Prinzipienlosigkeit nennen könnte, sie agierten eher »verhalten politisch, aber politisch handlungsfähig«. Allerdings habe auch diese Generation durchaus ethische Maßstäbe, »einen eigenen Wertekosmos«, wozu Hurrelmann Fairness, Geradlinigkeit und Sensibilität zählt.
So versöhnlich dieser Befund der »rätselhaften Generation« auch stimmen soll, so unvergessen bleiben der allzu flexible Umgang der jetzigen Außenministerin Annalena Baerbock mit der eigenen Biografie oder der peinliche Austritt von Kurzzeit-Bundesfamilienministerin Anna Spiegel, als sie ihre Rolle als rheinland-pfälzische Umweltministerin während des Ahr-Hochwassers zu erklären suchte. Geradlinigkeit? Sensibilität? Fehlanzeige!
Selbst das Hurrelmann’sche Diktum von der Fairness scheint inzwischen unter die Räder gekommen zu sein, schaut man sich die Grätschen von Finanzminister Lindner und Wirtschaftsminister Habeck in Sachen Gaspreise an. Da gelangt doch der im Buch immer wieder beschworene lockere und normale Umgang der Generation X über Parteigrenzen hinweg sehr schnell an seine Grenzen.
Fest scheint nur zu stehen: Die Generation X versteht sich tatsächlich mehr als Manager, die ähnlich wie in der Wirtschaft eben jetzt in der Politik agiert. Und so wie deutsche Unternehmen keine Streichelzoos sind, findet auch mitnichten ein Kuschelkurs zwischen politischen Konkurrenten statt. Hat nie stattgefunden, auch wenn jetzt Teambildung, Effizienz und eine deutlich bessere Ausgewogenheit zwischen Arbeit und Privatleben im Unterschied zu vergangenen Politikergenerationen den Neuen in Berlin ernste Anliegen sind.
Aber wenn sie, wie die Autorin von »Machtwechsel« nicht müde wird zu beschreiben, dabei statt des Drei-Knöpfe-Jacketts und der Raute der Vorgängerin die Sneaker und Selfies zu einem ihrer Markenzeichen erhoben haben, verliert auch das erfahrungsgemäß irgendwann seinen Reiz. Oder unterscheidet sich etwa Lindners Erklärungsversuch des Wahldebakels nach der Niedersachsen-Wahl Anfang Oktober 2022 wesentlich von altbekannten Mustern aus grauer Vorzeit?
Charme hätte es, wenn die Journalistin Anna Sauerbrey dranbliebe an ihrem Generationenporträt. Die Kontakte in die Politikerszene hat sie – und wie man an langen Passagen über Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch und SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert erkennen kann, nicht nur in die Generation X. Dann hätte sie auch Gelegenheit, ein paar Ungenauigkeiten im jetzt vorgelegten Buch zu korrigieren. Den 11. September richtig im Jahr 2001 zu verorten oder Bartschs vorübergehende Tätigkeit als Geschäftsführer des »Neuen Deutschland« entsprechend den Tatsachen weit mehr als ein Jahrzehnt später einzuordnen. Und vielleicht klappt es dann auch mit dem exakten Pioniergruß …
Vor allem aber könnte eine Fortsetzung ihrer Interviews womöglich den schrittweisen Wiedereinzug alter Muster in die Bubble der Hauptstadt belegen – oder auch nicht, weil dann womöglich schon die Generation Y das Zepter übernommen hat.
Anna Sauerbrey: Machtwechsel. Wie eine
neue Politikergeneration das Land verändert.
Rowohlt, 320 S., geb., 22 €.
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