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Liz Truss tritt ab
Großbritanniens neue Premierministerin gibt unter dem Druck ihrer Partei das Amt auf
Am Schluss ging es ganz schnell. Noch am Mittwochnachmittag hatte Liz Truss beteuert: »Ich bin eine Kämpferin, nicht eine, die aufgibt!« Aber 24 Stunden später trat die Premierministerin ans Rednerpult vor ihrem Regierungssitz in der Downing Street und erklärte: »Ich habe mit dem König gesprochen und ihm mitgeteilt, dass ich als Vorsitzende der Konservativen Partei zurücktrete.« Damit endete die Ära Truss nach nur 44 Tagen – es ist mit Abstand die kürzeste Amtszeit in der britischen Geschichte.
Nicht nur für Liz Truss ist die Blamage total, sondern auch für die Konservative Partei, die sie ins höchste Amt gehoben hat. Die Tory-Fraktion plant, innerhalb einer Woche einen neuen Regierungschef zu bestimmen. Aber erstens ist fraglich, ob sie sich auf einen Kandidaten oder eine Kandidatin einigen kann – und zweitens stößt die Entschlossenheit der Tories, einen zweiten Regierungswechsel ohne Neuwahlen zu vollziehen, auf Widerstand.
Der Demission von Truss waren außergewöhnliche Szenen vorangegangen. Am Mittwochabend begann ein politisches Schauspiel, das selbst bei altgedienten Politikern und Journalisten für Sprachlosigkeit sorgte – in Westminster schien endgültig die Anarchie ausgebrochen zu sein. Es begann am späten Mittwochnachmittag mit dem überraschenden Rücktritt von Innenministerin Suella Braverman. Offenbar war ein Streit um die Migration ausschlaggebend: Braverman hat die Reduktion der Einwanderung zu ihrer Priorität gemacht, während Truss einen allzu harten Kurs aus wirtschaftlichen Überlegungen zurückweist.
In ihrem Rücktrittsschreiben hielt sich Braverman nicht zurück mit spitzen Worten: »Ich habe Bedenken bezüglich der Richtung, in die diese Regierung steuert«, schrieb sie. Unter Truss seien mehrere Wahlversprechen von 2019 gebrochen worden, nicht zuletzt bei der Frage der Bootsüberfahrten über den Kanal, die Braverman stoppen wollte. Dann schreibt sie, dass es keine »seriöse Politik« sei, wenn man Fehler nicht eingestehe, und hoffe, dass sich die Dinge von allein zum Besten wenden würden – eine Anspielung auf die verzweifelten Versuche der Premierministerin, ihre unzähligen Fehltritte als Bagatellen abzutun und weiterzumachen, als sei nichts geschehen.
Aber das Chaos begann erst. Wenige Stunden später fand im Unterhaus eine von Labour erzwungene Abstimmung statt: Die Opposition stellte den Antrag, ein Fracking-Verbot auszurufen. Truss wollte diese höchst umstrittene Art der Erdgasgewinnung fördern, sorgte aber damit in den eigenen Reihen für Unmut. Mit der Abstimmung wollte Labour die Spaltung innerhalb der Regierungspartei weiter vertiefen. Das Kalkül ging auf: Als das Unterhaus am Abend zur Abstimmung überging, brach die Disziplin endgültig zusammen. Augenzeugen berichten, dass Handgemenge ausgebrochen seien, als manche Tories versuchten, ihre Kollegen in einen bestimmten Raum zu zerren – im britischen Unterhaus wird jeweils abgestimmt, indem die Abgeordneten entweder den »Ja«- oder den »Nein«-Saal betreten. Manche Abgeordnete seien in Tränen ausgebrochen, andere hätten sich gegenseitig angeschrien. »So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte Kirsty Buchanan, ehemalige Beraterin von Liz Truss, am Tag danach.
So schien die Regierung am Donnerstagmorgen kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. Disziplin, Autorität, kollektive Verantwortung – nichts ging mehr. Immer mehr Tory-Politiker kamen aus der Deckung und forderten offen den Rücktritt von Liz Truss. So bestellte die Premierministerin Graham Brady zu sich, den Vorsitzenden des einflussreichen 1922-Hinterbänklerkomitees. Sie wolle herausfinden, wie die Stimmung innerhalb der Fraktion sei, hieß es. Und offensichtlich machte ihr Brady unmissverständlich klar, dass die Zeit um sei. Eineinhalb Stunden später trat Truss vor die Presse und gab ihren Rücktritt bekannt.
Jetzt will die Tory-Partei innerhalb nur einer Woche einen neuen Premierminister bestimmen. Das genaue Verfahren war am Donnerstagnachmittag noch nicht klar, aber die Partei wird wohl versuchen, sich auf einen »Einheitskandidaten« zu einigen. Das dürfte jedoch nicht ganz einfach werden. Denn die Spaltungen innerhalb der Partei sind tief. Viele Politiker, denen man Ambitionen aufs höchste Amt nachgesagt hat, haben bereits bekannt gemacht, dass sie nicht antreten würden, darunter Finanzminister Jeremy Hunt. Boris Johnson hingegen will sich Gerüchten zufolge zur Wahl stellen – aber er ist nicht unbedingt jemand, der die Partei zusammenbringen kann.
Laut Verfassung ist es zwar zulässig, dass die Tories zum zweiten Mal einen Premier bestimmen, der nicht vom Volk gewählt wurde. In politischer Hinsicht ist die Situation weniger klar: Der Druck, Neuwahlen abzuhalten, wird in den kommenden Tagen zunehmen.
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