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- Neues aus der Marx-Engels-Forschung
Allzu viel Lärm um ein Nichts?
Marx-Engels-Forschung präsentiert zwei neue, bisher unveröffentlichte Briefe von Jenny Marx und Clara Zetkin – sowie einiges mehr
Für linke Verlage ist die Buchmesse in der Bankmetropole Frankfurt am Main eher uninteressant – und außerdem viel zu teuer. Sie favorisieren die Leipziger Publikumsmesse, auf der sie mit den Lesern vis-a-vis über ihre politisch engagierten Editionen diskutieren können. Wie natürlich auch die – wieder unmittelbar bevorstehende – linke Literaturmesse in Nürnberg. Und dennoch geistern auch in diesem Herbst durch die Hallen der weltweit größten Bücherschau am Main keck und trotzig Karl Marx und Friedrich Engels, ob als Kronzeugen in gesellschaftskritischen Publikationen oder als berühmte, vom Berliner Karl Dietz Verlag neu herausgegebene Blaue Reihe, die 44-bändige Marx-Engels-Werke (MEW). Die wesentlich preiswerter ist als die von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) besorgte Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) – Fortsetzung jahrzehntelanger Editions- und Fortschungsarbeit unter anderem an der Wissenschaftsakademie der DDR, deren materielle und immaterielle Güter allesamt von der Neugründung BBAW einverleibt worden sind, während das humane Kapital schnöde entsorgt wurde. Und doch: Eine wichtige Säule, wissenschaftlicher Zulieferer des mittlerweile mit 65 Bänden auf über die Hälfte des geplanten Umfangs (114 Bände) angewachsenen Jahrhundertprojektes sind die „Beiträge zur Marx-Engels-Forschung», die maßgeblich von Mitgliedern des Berliner Vereins zur Förderung der MEGA-Edition bestückt werden, einer der wichtigsten Ansprechpartner sowie Sprachrohr der internationalen Community der Marx-Engels-Forscher.
Auch in der jüngsten Ausgabe der „Beiträge» werden neue Erkenntnisse und Funde präsentiert, darunter Briefe von Jenny Marx und Clara Zetkin. Wer sich jedoch ob des Titels der neuen „Beiträge» eine Beschreibung der Reise von Marx nach Paris erhofft, die im Zeitalter der Kutschen gewiss beschwerlich und langwierig war, wird enttäuscht. Hier werden ernsthaftere, gewichtigere Fragen verhandelt. Wobei aber auch Unterhaltsames und Amüsantes geboten wird.
Beispielsweise mit Jennys Brief aus Paris vom 26. Dezember 1843. Rolf Hecker, Vorsitzender des MEGA-Freundeskreises (und justement in Seoul Kontakte pflegend), offeriert diesen hier gemeinsam mit Angelika Limmroth. Als Adressatin des an „Meine liebe, gute Louise» adressierten, nicht vollständig überlieferten Briefes vermuten die beiden Louise von Westphalen, Marxens Schwägerin. Dies wird durch die Innigkeit von Jennys Zeilen bestärkt, auch wenn die förmliche Anrede in heutigen Zeiten irritieren mag. Wer siezt sich noch innerhalb der Familie? „Wie könnt ich auch so bald, wie könnt ich jemals all’ die Liebe u. Güte vergessen, mit der Sie uns, die Fremden, die Einsamen vom ersten bis zum letzten Moment unseres Zusammenseins, so freundlich überhäuften; nein nie wird es meiner dankbaren Erinnerung entschwinden, wie lieb u. gut u. teilnehmend Sie Alle waren, wie treu u. mild u. sorglich in heitren wie in trüben Tagen«, schreibt Jenny an die (Halb)Schwester aus der ersten Ehe ihres Vaters, dem Salzwedeler Landrat und späteren Regierungsrat von Trier, Ludwig von Westphalen.
Karl und Jenny Marx trafen am 11. oder 12. Oktober 1843 in Paris ein und wohnten wahrscheinlich ab dem 1. November bei der Familie von Mitstreiter Arnold Ruge in der Rue Vaneau in der (damaligen) Pariser Vorstadt St. Germain, so Hecker/Limmroth. Aus dem Brief wird offenkundig, dass Jenny aus einem Provinzstädtchen stammt, sie ist begeistert und beeindruckt von der quirligen Seine-Metropole, auch fast etwas verängstigt, eingeschüchtert. Überrascht von der „Pracht und Herrlichkeit, die hier rings Ohr u. Aug u. Herz entzücken … Paris macht von Anfang an den großartigsten, wunderbarsten Eindruck. Überall wird man vom Geist überragender Verhältnisse angeweht u. das Bewußtsein in diesem großen Weltgetümmel persönlich ganz zu verschwinden thut besonders dann wohl, wenn man lange durch die kleinlichsten Persönlichkeiten u. Familienreibungen gelitten.«
Jenny gewährt Louise Einblick in ihre Wohnung in aristokratischer Umgebung, wo alter Glanz längst entschwunden war. Ihre Unterkunft sei »sehr einfach u. altmodisch» eingerichtet. »Nichts destoweniger aber doch in Mahagoni«, wie sie stolz vermerkt. Die kurz vor ihnen in Paris eingetroffenen Ruges leben »ganz einfach u. bürgerlich«, notiert Jenny, deren adliges Geblüt sich dann in der etwas neidvoll-spitzen Bemerkung verrät: »Herweghs wohnen fürstlich.« Und doch ist ihr der gleichfalls kleindeutsch-reaktionären Verhältnissen entflohene Revolutionsdichter »ein sehr liebenswürdiger Mensch, voll Herzensgüte u. Ehrlichkeit, voll Verstand und Klugheit. Äußerlich interessant u. elegant ist er ein zartes, sehr leidend aussehendes feines Herrchen, sie dagegen gemacht u. verkünstselt von Anfang zu End, voll Verstand u. Klugheit, aber ohne Herz, das Herz für ihren Georg abgerechnet, den sie abgöttisch verhätschelt.« Derlei kaltherzig scheinende, vielleicht auch eifersüchtige Äußerungen von Jenny sind bekannt, überraschen dennoch immer wieder. Und wie soll man Jennys Klagelied werten, dass nicht nur Fleisch, Butter, Eier, Brennholz in Paris ungemein teuer sind, womit sie sich aber notgedrungen zu arrangieren bereit ist? „Was aber kaum zu verschmerzen ist, das ist der Lohn für die Magd. Und welche Mägde, welche Musterexemplare von Unredlichkeit, Unordnung, Prätension u. empörender Frechheit.» Das scheint so gar nicht zu passen zum Bild der Gattin eines alsbaldigen Vorkämpfers für die Rechte der Unterdrückten, Geknechteten und Drangsalierten, des Vereinigers der „Proletarier aller Länder». Doch hier sei nicht im Duktus bourgeoiser Publizistik gerichtet, die gern jedes Wort von Marx oder seiner Getreuen missbräuchlich interpretiert, um Marxismus, Kommunismus und jegliche auf diese sich berufene emanzipatorische Bewegung zu verteufeln. Jenny hat sich fürwahr ihrem Karl und „der Sache», wie es einstmals hieß, in einem Maße aufgeopfert, das menschliche Leidenskraft und Leidenschaft schier sprengte. Das trifft natürlich auch auf die treue Seele Helene Demuth zu, die Haushälterin der Marxens und Mutter von Karls unehelichem Sohn Frederick.
Womit wir bei einer weiteren aufopferungsvollen Mitstreiterin für „die Sache» wären. Sie zählte erst 27 Lenze, als Marx starb: Clara Zetkin. Peter Mönnikes und Marga Voigt haben einen Brief aus ihrer Feder vom 22. Januar 1895 an Friedrich Engels „ausgebuddelt», in dem die tapfere Sozialistin und Frauenrechtlerin sich über den Unverstand der eigenen Genossen beklagt. Ein Beschwerdebrief, aus Ingrimm darüber verfasst, dass die Redaktion des »Vorwärts«, Zentralorgan der SPD, ihren vernichtenden Artikel über eine in ihren Augen banale, ungenügende frauenrechtliche Petition nicht veröffentlichen wollte. Sie wirft den Genossen vor, nicht zu begreifen dass »die Frauenfrage nur im Zusammenhang der allgemeinen sozialen Frage zu erfassen und (zu) fördern« sei. Der stellvertretende Chefredakteur des Blattes, Heinrich Brain, wetterte: »Wir stehen gar nicht an, im Prinzip der Genossin Zetkin recht zu geben, glauben aber, dass sie allzu viel Lärm um ein Nichts macht.«
Daraufhin bat Clara den »Hochverehrten Genossen Engels», so die Anrede, um Meinung und Rat. „Sie wissen wohl, dass unsere prolet(arische) Frauenbewegung in ihren Anfängen ziemlich frauenrechtlerisch infiziert war«, hebt sie an. Aber: „Dem ist anders geworden. Unsere deutsche prolet. Frauenbewegung ist in erster Linie nicht Frauenbewegung, sondern proletarische Bewegung, klassenbewusste Arbeiterbewegung. In reinlicher Scheidung hat sie sich von der bürgerl. Frauenbewegung getrennt. Sie anerkennt die Berechtigung der frauenrechtl. Forderungen vom Standpunkt der bürgerl. Frauen aus, unterstützt auch solche Forderungen, soweit sie es thun kann, ohne den Boden des Klassenkampfes zu verlassen & die prolet. Klasseninteressen zu vernachlässigen.» Clara untermauerrt ihre Kritik: „In Deutsch(land) ist die Frauenrechtlerei farbloser & schwächlicher als sonstwo & hat aus eigener Kraft so gut wie nichts geleistet. Sie nährte sich kümmerlich von Opfern & Gebetsrauch vor den Thronen fürstlicher Persönlichkeiten, deren Gunst sie durch Vermittlung gischtbrüchiger Kammerherren & Hofdammen a.D. & z.D. erbettelte.« Starke Worte, harte Polemik, das Problem ward aber auf den Punkt gebracht.
Viel Menschliches, allzu Menschliches bieten die neuen „Beiräge». Das ist schön. Denn dies war weder Marx noch Engels fremd. Sie wussten auch feucht-fröhlich zu feiern. Und es dürfte allen klar sein, dass auch Marx nicht nur von Luft und Liebe leben konnte (was er zur Genüge tun musste), er seine Werke geschäftstüchtig unter die Menschen zu bringen versuchen musste. Dennoch: Er fordert seinen französischen Verleger explizit auf, es zu ermöglichen, dass sein „Kapital», Krönung seines wissenschaftliches Œuvre, »in einer Form und in einem Preis erscheint, die das Werk für den kleinsten Geldbeutel zugänglich macht«.
Rolf Hecker und Jean-Numa Ducange legen dem deutschsprachigen Publikum erstmals Briefe von Marx und Engels an Maurice Lachatre vor, einem Anhänger des utopischen Sozialisten Saint-Simon, der auch den weltberühmten Romancier Alexandre Duma verlegerisch betreute, in späteren Jahren vor allem anarchistische Autoren. Seinen Wunsch, „Le Capital» zu veröffentlichen, begründete dieser gegenüber Marx wie folgt: »Ihr Buch, ›Das Kapital‹, hat ihnen so viele Sympathien in der Arbeiterklasse in Deutschland eingebracht, dass es ganz natürlich war, dass ein französischer Verleger die Idee hatte, seinem Land eine Übersetzung dieses meisterhaften Werks antubieten.« Obgleich Lachatre an anderer Stelle konzediert, dass die Lektüre »ziemlich schwierig« sei.
Pikantes verspricht Carl-Erich Vollgraf. Er erinnert an einen gewissen Rudolf Petzet, aus bayerischem Bildungsbürgertum, der als Legionär im Krimkrieg zwischen Russland und dem Osmanischen Reich teilgenommen hatte und Engels für seine Kriegsberichterstattung und -auswertung Informationen aus eben diesem zukommen ließ. Von ihm erfuhr der „General» (Spitzname von Engels), dass die meisten Söldner nicht durch russische Kugeln starben, sondern durch die katastrophale Unterversorgung mit Nahrungs- und Arzneimitteln, „Folge des absoluten logistischen Unvermögens der ungeschulten englischen Nachschub-Bastaillone», konstatiert Vollgraf. Sodann schreibt er: „Petzet präsentiert sich in seinen drei ersten Briefen an Engels als heißblütiger Verehrer von Mary.» Er habe schon Spaß mit ihr gehabt, bevor er ins Militär eingerückt sei. Und wünsche sich immer noch, in ihre Arme, seine »alte Liebe«. Nun korrigiert Vollgraf einen Irrtum, der noch in die Erläuterungen im MEGA 2-Band-III/8 Eingang fand. Petzets Mary war nicht die Mary Burns, Lebensgefährtin von Friedrich Engels, sondern eine Mary Moran, die später einen Bruder von Mary Burns heiratete und mehrere Kinder bekam. Deren erste Tochter, Mary Ellen Gorgina, genannt Pumps, sollte in Engels’ Haushalt wohlbehütet aufwachsen und jenen wie ihre Geschwister »uncle« (Onkel) nennen.
All solche persönlichen Details mögen manchem Linken unwichtig erscheinen, bringen uns Marx und Engels aber menschlich näher. Der Rezensentin sei verziehen, dass sie sich hier vielleicht zu sehr auf „Weiberkram» fokussierte. Die Scientific Community wird in den neuen „Beiträgen» jedenfalls voll auf ihre Kosten kommen. Sie wird sich auf die Aufsätze von Kaan Kangal über die „Bonner Hefte» von Marx und sein Verhältnis zu Bruno Bauer und von Jens Grandt über „Nähe, Distanz, Diskrepanz» zwischen Ludwig Feuerbach und Marx stürzen, gewiss auch gespannt den Kommentar von Olaf Miemiec zu Marxens berühmten Feuerbach-Thesen lesen: »Vom Umfang her winzig, vom Gewicht her gewaltig.» Ein Highligt in den „Beiträgen» sind die Erinnerungen von Georg Bernard Shaw an Friedrich Engels und Marxens Tochter Eleanor, notiert 1940 von Ivan Majski, die einmal mehr die weltweite charismatische Ausstrahlung des „Mohrs» aus Trier unterstreicht. Abschließend skizziert Dirk Krüger die Geschichte der umtriebigen Marx-Engels-Stiftung in Wuppertal, die sich durch die Zeiten des Kalen Krieg über die Wirren eines Epochenumbruchs allen Ungewissheiten und Anfeindungen zum Trotz bis heute als standhaft erwiesen hat. Bravo!
Rolf Hecker/ Richard Sperl/ Carl-Erich Vollgraf: Marx’ Weg von Bonn nach Paris. Beiträge zur Marx-Engels-Forschung 2020/21 Argument, 275 S., br., 25 €. Bestellungen per E-Mail an:
info@marxforschung.de
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