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Omnia sunt communia
»Bauernkrieger im Talar« – Marion Dammaschke forschte über Thomas Müntzer in der Belletristik
Wenn man heute Schüler fragt, wer Thomas Müntzer war, erntet man Schulterzucken. Er ist fast vergessen. Am bevorstehenden Reformationstag wird zuvörderst an Martin Luther und seinen Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 an der Wittenberger Schlosskirche erinnert und weniger an dessen einstigen Bruder im Geiste, später von diesem übelst verteufelt. Gewiss, die tapfere, in Mühlhausen ansässige Thomas-Müntzer-Gesellschaft bemüht sich seit Jahr und Tag, seit ihrer Gründung 2001, Müntzers Leben und Werk der Öffentlichkeit zu vermitteln, doch scheint im vereinten Deutschland das alte westdeutsche Vorurteil vom militanten Theologen, bestenfalls hoffnungslosen Schwärmer zu dominieren. Interessanterweise wird der radikale deutsche Reformator ganz anders in Italien oder Frankreich gesehen. Das unter den Namen »Luther Blissett« bekannte italienische Autorenteam setzte Müntzer in dem historischen Thriller »Q« (1999) ein würdiges Denkmal, ebenso der französische Romancier Éric Vuillard in seinem Essay »Der Krieg der Armen« (2019). Dahingegen wird Müntzer im Roman »The Ausbund« des US-amerikanischen Schriftstellers Jeremiah Pearson, in Deutschland 2017 unter dem Titel »Der Bauernkrieger« erschienen, »als religiöser Fanatiker und verantwortungslos handelnder Scharfmacher« abqualifiziert.
Marion Dammaschke hat sich intensiv mit Thomas Müntzer in der Belletristik seit 1945 befasst, wobei ihr Hauptaugenmerk auf in der DDR erschienenen dramatischen, lyrischen oder epischen Werken liegt. Diese porträtierten und interpretierten Müntzer mit Sympathie und beschrieben ihn als einen glaubensstarken aufrechten Kämpfer für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, freilich in einem Balanceakt zwischen Fakten und Fiktion. Dichterische Freiheit galoppierte bei einigen Autoren kühner als bei anderen. Die Historikerin und stellvertretende Vorsitzende der Müntzer-Gesellschaft konzediert, dass zu Müntzer arg wenig historische Quellen, nur spärlich persönliche Zeugnisse, Schriften und Briefe überliefert sind. Sein Lebenslauf lasse sich nicht lückenlos rekonstruieren. Und so verwundert es nicht, dass schon früh Legenden um ihn gewoben wurden, die sich bis in die Gegenwart halten, trotz Korrektur durch die Wissenschaftler. So wirkt das vor 500 Jahren entworfene Bild in der von Philipp Melanchton anonym verfassten »Histori Thomas Muntzers« noch heute nach, merkt Marion Dammaschke an, um sodann gesichert geltende Lebensdaten zu rekapitulieren, bevor sie sich der Prosa und Poetik zuwendet.
Dem 1489 (das exakte Geburtsdatum ist nicht bekannt) in der am Südharz gelegenen kleinen Residenzstadt Stolberg Geborenen bescheinigten wohlgesonnene Zeitgenossen ein fundiertes theologisches Wissen, Charisma und Überzeugungskraft, mit der er die aufständischen Bauern 1524/25 zwischen Thüringer Wald und Harz in ihrem Kampf gegen tyrannische Obrigkeiten und für eine neue gottgewollte Ordnung anzuspornen vermochte. Nach der verheerenden Niederlage auf dem Schlachtberg bei Frankenhausen von fürstlichen Söldnern gefangen genommen und auf Schloss Heldrungen gefoltert, wurde Müntzer am 27. Mai 1525 nahe der Reichsstadt Mühlhausen enthauptet.
Die Literaten interessierten sich vor allem für die dramatische Endzeit, beginnend mit dem Jahr 1523 in Allstedt, wo Müntzer die längste Zeit in seinem kurzen, umtriebigen Leben als Pfarrer und Seelsorger gewirkt, den deutschsprachigen Gottesdienst eingeführt, ein erstes Schutzbündnis und eine Familie gegründet hatte. In der DDR wurde er als entschlossener Vorkämpfer für eine von Ausbeutung freie Gesellschaft gewürdigt, der sein Leben für die revolutionäre Sache geopfert hatte. Müntzers Forderungen »Omnia sunt communia« (alles gehöre allen) und »Die Gewalt soll gegeben werden dem gemeinen Volk« wurden als gesellschaftspolitisches Credo propagiert, von ihrer biblisch-theologischen Sinngebung losgelöst, wie Marion Dammaschke kommentiert. Die Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) 1945, die spätere sozialistische Umgestaltung auf dem Land und die Einführung von Volkseigentum galten als Erfüllung von Müntzers Visionen.
Erste Maßstäbe setzte Friedrich Wolf, der – beeinflusst von Ernst Blochs Schrift »Thomas Müntzer als Theologe der Revolution« (1921) – bereits 1924 erfolgreich sein Stück »Der arme Konrad« in Stuttgart auf die Bühne gebracht hatte. Im sowjetischen Exil vertiefte er sich weiter in die Materie, schuf ein Revolutionsdrama, das 1953 am Deutschen Theater uraufgeführt wurde, mit Wolfgang Langhoff in der Hauptrolle. Von Wolf stammt auch das Exposé für den ersten Müntzer-Film der Defa, dessen Premiere der Autor jedoch ebenfalls nicht erlebte. Wolf kannte einige Schriften Müntzers, zitierte aus diesen, darunter die den DDR-Bürgern gleichermaßen wie die oben zitierten Worte bekannte Mahnung: »Deshalb mußt du, gemeiner Mann, selbst gelehret werden, auf daß du nit länger verführet werdest.« Marion Dammaschke vergisst nicht zu betonen, dass Wolf Müntzers Gattin Ottilie von Gersen explizit als eine ihren Mann nicht nur liebende, sondern auch aktiv unterstützende Frau darstellte, die von der Aufrichtigkeit seines Kampfes bis zu seiner letzte Stunde überzeugt war. Ins Reich der Fantasie verweist die Autorin allerdings des Schriftstellers Ausmalung, sie habe mit eigenen Händen eine Regenbogenfahne gestickt, die den Aufständischen vorangeweht sei.
Wenige Wochen vor Wolfs Drama wurde bereits am nach dem radikalen Reformator benannten Theater in Eisleben das Stück »Thomas Müntzer in Mühlhausen« von Horst Ulrich Wendler aufgeführt, der sich auf die Schriften von Wilhelm Zimmermann, Theologe und Abgeordneter des Frankfurter Paulskirchenparlaments von 1848/49, sowie auf Friedrich Engels’ Schrift über den deutschen Bauernkrieg stützte. Alsbald folgen Romane. Acht Auflagen bis zum Ende der DDR erlebte die literarische Biografie »Thomas Müntzer» von Hans Pfeiffer, 1975 zum 450. Jahrestag der DDR im Verlag Neues Leben herausgebracht. Pfeiffer war auch Drehbuchautor des mehrteiligen DDR-Fernsehfilms »Denn ich sah eine neue Erde« und des im Müntzer-Jahr 1989 ausgestrahlten Streifens »Ich, Thomas Müntzer, Sichel Gottes«. Im Gegensatz zu anderen Autoren kolportierte Pfeiffer nicht die Legende, dass durch den gewaltsamen Tod des Vaters Müntzer zum Revolutionär avanciert sei, jener tanzt bei ihm stattdessen auf des Sohnes Hochzeit.
Der erste populär wirksame Roman über Müntzer entstammte allerdings der Feder von Ernst Sommer, der als Jude vor den Nazis aus Prag nach London fliehen musste. Seine schon in der SBZ im Aufbau-Verlag edierte Hommage an den willensstarken, deutschen Revolutionsführer in der Nachfolge des böhmischen Reformators und Märtyrers Jan Hus sollte nachfolgende Biografen und Literaten inspirieren. Dammaschke erinnert auch an Rosemarie Schuder. »Sie galt in der DDR als geehrte Verfasserin anspruchsvoller und gründlich recherchierter historischer Erzählungen, Romane und Essays. In ihrem Buch ›Meine Sichel ist scharf‹ von 1955 orientierte sie sich an den historischen Fakten«, betont Marion Dammaschke. Schon der Titel greift eine Formulierung aus einem Brief Müntzers auf. Rosemarie Schuder, Mitglied der CDU der DDR, lässt ihren Müntzer am Ende zweifeln: »Mein Gott? – Ich weiß nicht, wo Gott ist.« Mag sein, dass sie, verheiratet mit dem Shoah-Überlebenden Rudolf Hirsch (»Patria Israel«), da auch jüdischen Zweifel an Jahwe nach dem millionenfachen deutsch-faschistischen Mord an der europäischen Judenheit im Sinne hatte.
Wie auch immer, die vielfach in den Anfangsjahren der DDR allzu heroisierende Darstellung oder instrumentalisierende Vereinnahmung Müntzers sei ab Ende der 1960er Jahre durchbrochen worden, von zumeist jüngeren Autoren, denen eine pathetische Überhöhung abhold war, die individuelle Zugänge zur historischen Persönlichkeit suchten und von der gesellschaftlichen Entwicklung des realen Sozialismus enttäuscht oder desillusioniert waren, wie Marion Dammaschke schreibt. Nun wurde mit Müntzer Gesellschaftskritik geübt. So legt Hans-Jörg Rother in seinem Poem »Thomas Müntzers Kreuzwegstationen« seinem Helden die Worte in den Mund: »Ja, ja, ich habe gesagt:/ ›Omnia simul communia‹./ Und dass wir uns erneuern müssen./ Brüder hört doch! Die Ursach ist gewesen/ Dass ein jeder mehr seinen eigenen Vorteil/ Gesucht hat.« Kritik an Eigennutz auch in sozialistischer Realität.
Den Widerspruch zwischen kommunistischem Ideal und gesellschaftlicher Wirklichkeit hat ebenso Volker Braun in seinem Gedichtband »Training des aufrechten Gangs« von 1979 aufgespießt. Im »Richtplatz bei Mühlhausen« lodert die Frage: »Ist es zu früh. Ist es zu spät.« Einen Brief von Müntzer von Ende März 1522 an Melanchthon adaptierend, lässt Braun den Sozialrebellen an die Mitstreiter appellieren: »Warum Ihr glaubt, daß man (noch) warten müsse, weiß ich nicht. Liebe Brüder, laßt Euer Zögern, es ist Zeit!« Der Dichter endet um Verständnis für seine Position bittend: »Ihr zarten Schriftgelehrten, seid nicht unwillig, ich kann es nicht anders machen.« Drei Jahre zuvor gehörte Braun zu den Erstunterzeichnern des Protestbriefes gegen die Ausbürgerung Wolfgang Biermanns.
Es gab in der DDR durchaus konträre Müntzer-Bilder: der unerschrockene, geradlinige Kämpfer für die Rechte der Armen einerseits, der Nachdenkliche, mit sich Ringende andererseits. 1975 erschien unter dem Titel »Die Enkel fechten’s besser aus« (ein Zitat aus dem Florian-Geyer-Lied von 1920) eine Anthologie, herausgegeben vom Résistance-Kämpfer und Kulturfunktionär Alexander Abusch. In diese aufgenommen war unter anderem ein Gedicht von Uwe Berger: »Beschwörung Müntzers«. Darin wurde Müntzer hinter Spartakus ein vorderer Platz in der Chronologie sozialistischer Vorkämpfer eingeräumt. Abusch selbst hatte, wie Marion Dammaschke berichtet, schon 1925 bei der Gestaltung der Müntzer-Tage in Mühlhausen mitgewirkt und in seiner im mexikanischen Exil entstandenen Abhandlung »Der Irrweg einer Nation« Müntzer explizit als »ersten Strategen des revolutionären Volkskrieges« bezeichnet. Ähnlich sah Claus Hammel in seinem Gedicht zum 60. Jahrestag der Oktoberrevolution 1977 den »Granatdreher Spartaus« und den »Richtschützen Müntzer« am Werk, bevor das Geschütz des Panzerkreuzers »Aurora« das Signal zum Stum auf das Winterpalais des Zaren in St. Petersburg gegeben habe. Anders Armin Müller, der in seinen ebenfalls zum 450. Jubiläum des Bauernkriegs verfassten Gedichten über Müntzer meint: »In seinem Wort, dem freien/ hat sich das Volk erkannt/ So lebt er fort für immer/ in uns und unserem Land.« Das konnte, musste als Kritik auch an DDR-Zuständen gelesen werden.
»Zu einem scharfen Kritiker von Heldenverehrung und phrasenhafter, pseudosozialistischer Beteuerungen wurde Reinhold Andert«, schreibt Marion Dammaschke. Der DDR-Liedermacher war überzeugt, dass Müntzer ob seiner Radikalität und Unbotmäßigkeit gegenüber den Mächtigen auch in der DDR Schwierigkeiten bekommen hätte. In seinem Liedtext »Der vorletzte Gang des Thomas Müntzer« heißt es: »Was musstest du auch deiner Zeit vorgreifen, anstatt zu warten auf die rechte Frist, bis deine Fürsten selbst zu Bauern reifen, du wärst auch heute noch ein – Anarchist.« Anderts Text erlebte erst mehr als drei Jahrzehnte nach dessen Entstehen das Glück von Druckerschwärze.
Den Schlusspunkt der Müntzer-Lyrik in der DDR setzte Klaus Körner 1989 mit »Gegenlicht traumgeschwärzt«. Das Gefühl, Sieger der Geschichte zu sein, wird hier als ein Trugschluss entlarvt. Wohlgemerkt, es war das letzte Jahr der DDR, das durch Partei- und Staatschef Erich Honecker dero selbst als Müntzer-Jahr deklariert und auf einer Festsitzung am 18. Januar mit den viel zitierten Worten eröffnet worden war: »Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind.« Interessant ist das Interview, das Marion Dammaschke mit Körner führte. Nicht minder aufschlussreich sind ihre Gespräche mit Christoph Dieckmann und Christian Lehnert, letzterer Autor des am Deutschen Nationaltheater Weimar 2014 aufgeführten, heftig debattierten Stücks »Vom Lärm der Welt oder die Offenbarung des Thomas Müntzer«. Auch das beliebte DDR-Comic-Magazin »Mosaik« widmete sich Müntzer und Luther. Die erste Erzählung über Müntzer für Kinder in der DDR erschien 1951, verfasst von Ann-Charlott Settgast. Das erste und einzige Kinderbuch zu Luther, »Bruder Martinus«, brachte Hans Bentzien, vormaliger Kulturminister, 1983 auf den Markt.
In den 90er Jahren brach das Interesse an Müntzer ab, kurzzeitig war es noch einmal während der Arbeitskämpfe der Mansfelder Kumpel gegen die Treuhänder aufgeflammt. Auch Volker Braun beschwor ihn noch einmal wider schreiende Ungerechtigkeiten in ostdeutschen Landen. Inzwischen, so die frohe Botschaft von Marion Dammaschke, habe sich die belletristische Müntzerrezeption neu etabliert. Als Zeugin ruft die Autorin die italienische Germanistin Natascia Barrale an, die sogar von einer Renaissance Müntzers spricht: »Es müntzert wieder.« Es gebe jedoch bislang keine neue Prosa über Müntzer und den Aufstand des »gemeinen Mannes«, die sich speziell an Kinder und Jugendliche richtet, bedauert Marion Dammaschke. Ein hochinteressanter, akribisch recherchierter, lesenswerter Band!
Marion Dammaschke: Bauernkrieger im Talar. Thomas Müntzer in der Belletristik seit 1945. Hg. Thomas-Müntzer-Gesellschaft, 315 S., br., 14,99 €. Zu bestellen über die Müntzer-Gesellschaft e.V., Kristanplatz 7, 99974 Mühlhausen/Thüringen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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