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- Massenproteste im Iran
»Es könnte der größte Schlag gegen den Fundamentalismus sein«
Mohammad Reza Nikfar beobachtet als Chefredakteur des persischen Exil-Radiosenders Zamaneh die Aufstände im Iran und hält einen Sturz des Regimes in Teheran nicht für unmöglich
Wie schätzen Sie die aktuellen Demonstrationen ein, sind das noch Proteste, oder ist das schon eine Revolution?
Ich denke, erst am Ende eines umwälzenden Prozesses können wir beurteilen, ob er als eine Revolution bezeichnet werden kann. Aber es gibt schon einige Zeichen, die in eine solche Richtung deuten. Wir haben es mit einer weit verbreiteten, durchaus verwurzelten Protestbewegung zu tun. Ihre Motive und Lösungen sprengen den Rahmen der vorhandenen Ordnung. Ich glaube aber, dass die Herrschenden noch ihre Macht beibehalten können. Also müssen wir uns auf einen langen Prozess einstellen.
Seit Beginn der Massenproteste im Iran geht das Regime mit zunehmender Härte gegen Journalisten vor. Aktuell sind laut Reporter ohne Grenzen mindestens 41 Medienschaffende (Stand 31. Oktober) inhaftiert. Darunter auch Vahid Shamsoddinnezhad.
Der für den französischen Fernsehsender Arte arbeitende Journalist habe am 24. September seine Akkreditierung vom Sender und den Presseausweis in Teheran hinterlegt, teilte Arte am Dienstag mit. Vier Tage später sei er in Saqqez, einer Stadt im kurdischen Gebiet, festgenommen worden. Derzeit befinde er sich in Teheran in Haft, ein Ermittlungsverfahren gegen ihn sei eingeleitet worden, hieß es.
Schon länger sperrt das iranische Regime digitale Plattformen wie Instagram oder Twitter, zudem wurde die Online-Zensur seit Beginn der Proteste ausgeweitet. Am 26. Oktober hat der Iran die Sender Deutsche Welle und Radio France Internationale auf die Liste sanktionierter Institutionen aufgenommen. Dadurch sei der Zugang zu unabhängigen Informationen drastisch eingeschränkt, bemängelt Reporter ohne Grenzen. Um gegen diese Verletzungen der Pressefreiheit zu protestieren, hat die Organisation am 27. Oktober beim Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eine Beschwerde eingelegt. »Die Vereinten Nationen müssen sich für die Freilassung iranischer Journalistinnen und Journalisten einsetzen«, fordert Michael Rediske, Vorstandssprecher von Reporter ohne Grenzen. »Die Schikanen gegen Medienschaffende müssen aufhören.« sot
Wer protestiert denn derzeit alles?
Die iranische Gesellschaft ist von einer großen Unterschiedlichkeit geprägt. Sie ist vor allem eine Klassengesellschaft. Vor allem die Oberschicht genießt die Privilegien aufgrund ihrer Verbindungen zum Regime. Die Diskriminierung indes hat verschiedene Dimensionen: klassenbezogene, religiöse, sexuelle, kulturelle, ethnische und regionale. Die Protestbewegung ist ein Panorama dieser Unterschiedlichkeit. Wenn man im Westen vom Iran spricht, werden oft ganz flache Begriffe verwendet: Es wird vom Volk gesprochen oder von einem fundamentalistischen Regime. Aber wir müssen genauer auf die Unterschiede blicken. Wenn wir das machen, dann können wir die Bewegung besser verstehen.
Die Proteste dauern seit sechs Wochen an, und es gab bereits viele Tote. Da war etwa der blutige Freitag von Zahedan Ende September, als Dutzende Protestierende erschossen wurden. Was kann eine Zivilgesellschaft dagegen ausrichten?
Wir sehen, dass der Wille zum Widerstand wächst. Aber wir dürfen die Reaktionen des Regimes nicht unterschätzen. Bis jetzt sind mehr als 250 Leute getötet worden. Darunter ungefähr 30 Kinder. Und die Situation kann noch brutaler werden. Der Unterdrückungsapparat ist noch nicht mit ganzer Kraft auf der Straße.
Wie groß ist die Angst vor Masseninhaftierungen und Hinrichtungen?
Die neuere Geschichte des Iran ist eng verbunden mit der Geschichte seiner Gefängnisse. Wir wissen noch nicht, wie viele Menschen verhaftet wurden. Wir wissen aber, dass die Zellen überfüllt sind. Von manchen Gefangenen fehlt jede Spur. Es gibt die Gefahr von Massenhinrichtungen. Denn nach dem islamischen Strafgesetzbuch ist jemand, der gegen den Islamischen Staat aufsteht, gegen Gott aufgestanden. Nach dem Gesetz muss er getötet werden.
Wie können die Personen in den Gefängnissen geschützt werden? Als die Inhaftierten im Teheraner Gefängnis Evin rebelliert haben, sind viele Menschen vor das Gefängnis gegangen. Ist das eine adäquate Möglichkeit, um zu zeigen: »Wir sind hier und gucken da drauf?«
Fast jeden Tag gibt es Proteste und Versammlungen vor den Gefängnissen, organisiert von den Familien der politischen Gefangenen, um über die Situation der Inhaftierten zu informieren. Viele Wortführer der Bewegung sitzen inzwischen im Gefängnis. »Freiheit für alle politischen Gefangenen« muss zu einem Hauptziel der Bewegung werden. Deswegen brauchen wir die Unterstützung der internationalen Menschenrechtsorganisationen.
Wie gefährlich ist die Situation für Medienschaffende im Iran?
Die Proteste laufen ja immer gleichzeitig in der realen und der virtuellen Welt. Und das Regime versucht, den Zugang zur virtuellen Welt zu sperren: Es blockiert das Internet und versucht all diejenigen zu verhaften, die Informationen in die Welt tragen. Ich kenne viele Aktivisten und Journalisten, die sind jeden Tag woanders. Das Regime versucht, sie zu verhaften oder ihre Mittel zur Berichterstattung wie Laptops oder Smartphones zu beschlagnahmen.
Radio Zamaneh hat ja schon über die Proteste von 2009 berichtet. Wie hat sich Ihre Arbeit seitdem verändert?
Damals war die Situation überschaubarer. Es gab eine politische Spaltung zwischen Reformisten und Hardlinern im Iran, die war bestimmend für den Anfang und den Verlauf der Proteste. Am Ende der sogenannten Grünen Bewegung haben sich viele junge Leute vom Reformflügel abgewendet …
… also vom Lager von Hossein Mussawi. Diese Bewegung hat eine faire Wahl gefordert und sich um Mussawi organisiert …
… Ja, ihr Ziel war eine gerechte Wahl und der Kampf gegen die Korruption. Viele waren sich fast sicher, dass Mussawi als Gewinner aus der Wahl hervorgehen würde. Als das Regime dann den fundamentalistischen Mahmud Ahmadinedschad zum Sieger erklärte, kam es zu einer Art Explosion. Am Ende waren viele enttäuscht. Die jetzige Bewegung ist nicht für eine Fraktion oder eine Persönlichkeit innerhalb des politischen Apparats, sondern sie ist gegen das ganze Regime. Das unterscheidet die Szenerie von damals. Wir haben es mit einer Bewegung zu tun, die in Richtung einer sozialen Revolution geht.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen den jetzigen Aufständen und den Protestwellen von 2017, 2018-19 und 2021?
Es gab in den vergangenen Jahren ununterbrochen Demonstrationen und Streiks. Wir hatten jede Woche etwas zu berichten. Über Demonstrationen von Arbeitern und Bauern, von Lehrern, von Krankenschwestern. Die Unzufriedenheit im Land ist bereits angewachsen. Nun hat der Protest aber eine neue Qualität bekommen, und sehr interessant ist dabei der Ausgangspunkt: Es geht um die Emanzipation der Frauen.
Ist die Unzufriedenheit in der jungen Generation besonders groß?
Der Iran hat 84 Millionen Einwohner und ungefähr 4 bis 4,5 Millionen Studierende. Nach ihrem Abschluss finden sie oft keinen Job und denken ans Auswandern. Andere finden einen Job, aber sie können das Haus der Eltern nicht verlassen, weil sie kein Zimmer mieten können. Viele Soziologen sprechen von einer verarmenden Mittelklasse. Das Potenzial wäre also da, um eine Brücke zu noch Ärmeren zu bauen. Aber die Leute sind noch nicht gut organisiert. Der Protest ist oftmals von einer Spontaneität geprägt. Nur in einigen Städten oder Regionen sind die Aktivisten besser organisiert, zum Beispiel in Kurdistan. Auch Teheran und andere große Universitätsstädte haben bereits eine Protestkultur, die kleineren Städte hingegen noch nicht. Wir beobachten aber auch Lernprozesse: Die Menschen in den Städten und Regionen schauen viel voneinander ab. Wenn an einer Stelle ein neuer Protest erklingt, dann erklingt er an einer anderen Stelle bald noch stärker und stärker. Wir erleben eine Art Resonanz.
Nimmt auch die ältere Generation Einfluss auf die Proteste?
Der Einfluss der älteren Generation ist nicht unerheblich, obwohl auf der Straße bislang vor allem junge Leute sind. Die bringen ihre Emotionen aber mit nach Hause und treffen dort auf die Erfahrungen der Älteren. Sie lernen aus deren Geschichte. Mittlerweile beobachten wir auch gemeinsame Proteste. In den kurdischen Gebieten etwa beteiligt sich auch die ältere Generation daran. An mehreren Tagen wurden beispielsweise die Geschäfte geschlossen. Viele Ältere sind aber noch immer enttäuscht von der Revolution gegen das Schah-Regime. Nach der Revolution hatten wir acht Jahre Krieg. Diese Generation ist müde, das müssen wir verstehen. Aber wir sehen auch, dass diese Müdigkeit allmählich überwunden wird.
Welche Rolle spielen die Kurden derzeit?
Unmittelbar nach der Islamischen Revolution wurden die kurdischen Gebiete zum Zentrum des Widerstandes gegen das neue Regime. Die Kurden gehören mehrheitlich nicht zur schiitischen Richtung des Islam, sie sind Sunniten und werden diskriminiert. Ihre Bewegung ist geprägt von einer linken Kultur, in der die Emanzipation der Frauen wichtig ist. Die Menschen dort sind auch relativ gut organisiert im Vergleich zu anderen Orten.
Wie wichtig ist das Internet für die Proteste?
Das Internet ist das einzige wirkliche Fenster zur Außenwelt. Es gibt keine freie Presse, und die ausländischen Nachrichtenagenturen haben kein Büro in Teheran. Die sogenannten Bürgerjournalisten bilden die wichtigste Informationsquelle für uns.
Radio Zamaneh hat auch über die Aufstände von 2009 berichtet. Wie hat sich ihre Arbeit seitdem verändert?
Damals gab es fast noch keine Smartphones. Vor allem junge Leute berichteten damals in ihren Blogs über die Bewegung. Auf die bezogen wir uns bei unserer Berichterstattung. Jetzt ist die Sache komplizierter, weil fast alle Smartphones haben. Es gibt permanent Fotos, Videos und Audios von den Protesten. Wir bekommen laufend Informationen und müssen Fakten überprüfen. Schließlich ist die Realität nicht nur das, was du als Bild oder Video siehst.
Wie verifizieren Sie Nachrichten?
Wir haben gut ausgebildete Kollegen, die ein Training dafür erhalten haben. Sie sichten die Nachrichten und Videos und gleichen das Material mit anderen Informationen ab. Zum Beispiel haben wir ein Video, von dem es heißt, es sei aus Shiraz. Also schauen wir uns das Video genau an, achten auf die Straße und die Schilder. Wir versuchen die entsprechende Straße in Shiraz zu finden, über Google Maps zum Beispiel. Erst wenn wir sicher sind, dass es die entsprechende Straße ist, und die Schilder zeigen, dass es sich um diese eine Ecke handelt, dann vergleichen wir das Video mit anderen Videos und Nachrichten. Wenn wir zwei bis drei sichere Anhaltspunkte haben, können wir dieses Video als Informationsquelle benutzen.
Wie schätzen Sie die regimetreue Bevölkerung im Iran ein?
Zahlenmäßig sind die Regimetreuen nicht zu unterschätzen. Sie genießen einen Status, dem Staat zu dienen, und sie halten sich zudem für Gottesdiener. Diese doppelte Funktion lässt sie noch stärker erscheinen. Der Widerstand der Regimetreuen wird im Vergleich zu den Funktionären und Anhängern des Schah-Regimes viel größer sein.
Haben die Proteste einen Einfluss auf die regimetreuen Milieus?
Wir können auf die Erfahrung von anderen Ländern zurückgreifen, die eine solche Transformation bereits erfahren haben. In einer ersten Phase der Bewegung sehen wir, dass es unter den Funktionären des Regimes einige Leute gibt, die sagen: »Okay, wir müssen den Protestierenden zuhören, vielleicht brauchen wir eine Art Reform.« In diesen Wochen haben einige angefangen, die vorhandene Politik des Regimes zu kritisieren und zu sagen: »Wir brauchen Verbesserungen. Unsere Strategie, besonders den Frauen gegenüber, war falsch.« Manche regimetreue Professoren, manche Journalisten, Politiker und Abgeordnete sagen das. Wir nehmen das aber nicht ernst. Das ist die erste Phase. Wenn wir in die zweite Phase übergehen, in der die Proteste sich intensiviert haben, werden die Leute des Regimes ihre Situation als gefährdet wahrnehmen. Sie fürchten um ihre Zukunft, und auch die Konflikte innerhalb des Regimes werden größer. Einige werden sagen: »Wir müssen eine harte Linie verfolgen.« Andere wiederum: »Nein, das geht nicht. Das macht die Lage schlimmer. Was wir brauchen, ist eine Art Reform.« Dann erleben wir eine Polarisierung von dem Teil der Bevölkerung, der sich bisher nicht entschieden hat. Einige tendieren zu Reformern. Andere sind gegen das ganze Regime. Nicht außer Acht lassen dürfen wir auch, dass der jetzige Führer des Regimes, Ali Khomenei, schon 83 Jahre alt ist. Wir wissen, dass es innerhalb des Regimes eine Diskussion über mögliche Nachfolger gibt. Die Situation ist also kompliziert.
Und der Ausgang scheint unklar zu sein …
Ja.
Welche Hoffnung haben Sie für die Zukunft des Iran?
Besser gesagt: Furcht und Hoffnung. Zittern und Hoffnung. Beides. Das wird nicht einfach sein. Es könnte der größte Schlag gegen den Fundamentalismus und die Despotie im Nahen und Mittleren Osten sein. Es geht um die Emanzipation der Frauen und eine nie dagewesene Revolution gegen jegliche Art der Diskriminierung. Ob das aber gelingt, ist ungewiss.
Mohammad Reza Nikfar ist Chefredakteur beim persischsprachigen Radiosender Zamaneh, der aus Amsterdam sendet. Außerdem ist der promovierte Philosoph als Dozent für politische Theorie am Institut für Sozial- und Geisteswissenschaften in Den Haag tätig. Mit ihm sprach Balduin Bux über die anhaltenden Proteste im Iran.
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