Zwischen Aktivismus und Selbstbehauptung im Privaten

Eine Wanderausstellung beleuchtet das Leben von Menschen mit Behinderungen in Deutschland und der Ukraine

  • Martin Höfig
  • Lesedauer: 4 Min.

»Während die deutschen Protagonist*innen eher aktivistisch sind, geht es bei den ukrainischen vor allem um Selbstbehauptung im Privaten«, sagt Nataliia Zviagintseva. Die Aussage der Kuratorin der Wanderausstellung »überZEUGEN: Geschichten von Menschen mit Behinderungen in Deutschland und der Ukraine« spiegelt sich auch in den Fotos wider, die im Rahmen der Schau seit Dienstag in der Berliner Alice-Salomon-Hochschule (ASH) zu sehen sind. 

Auf einem der Bilder blockieren beispielsweise etwa zwei Dutzend Rollstuhlfahrer*innen den Ku‹damm in West-Berlin. »Die Aktivist*innen der Behindertenbewegung haben sich da Ende der 1980er organisiert, sind auf die Straße gerollt und haben diese dann eine Stunde lang blockiert, um für mehr Teilhabe zu protestieren«, sagt Zviagintseva. Demgegenüber erzählt eine Ukrainerin unter dem Foto einer Gravur aus Japan, wie dieses Kunstwerk ihrer Familie über Jahrzehnte »Frieden, Freude, Wärme, Gemütlichkeit und Zärtlichkeit« geschenkt habe. Zwei völlig unterschiedliche Lebenswelten also, in denen sich die jeweiligen Menschen mit Behinderung bewegen.

Die Wanderausstellung »überZEUGEN« entstand 2020/2021 im Rahmen des Programms »Inkultur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe« des Vereins Deutsch-Russischer Austausch (DRA). Mit beteiligt sind auch der Allgemeine Behindertenverband in Deutschland (ABiD) und das Institut für Behinderung & Partizipation (IB&P) sowie Partnerorganisationen aus der Ukraine. ABiD und IB&P arbeiten seit 15 Jahren mit nationalen Behindertenverbänden in zwölf Staaten auf dem Gebiet der früheren UdSSR partnerschaftlich zusammen. Dabei sei der Verband der Organisationen von Menschen mit Behinderungen in der Ukraine ein wichtiger Partner aus diesen Ländern, so der amtierende IB&P-Vorsitzende André Nowak.

Die Wanderausstellung wurde bereits in mehreren ukrainischen Städten wie Kiew, Lwiw und Charkiw sowie auch schon zweimal in Berlin und einmal in Waren/Müritz gezeigt. Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem Wert des Lebens und der Menschenwürde, analysiert werden soll die Entwicklung des Verständnisses von Behinderung, Fürsorge und Partizipation seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute.

Für das Projekt, das anlässlich des dortigen Hochschultages zu Inklusion und Barrierefreiheit seinen Weg an die ASH gefunden hat, befragten die Macher*innen zwölf Menschen mit Behinderungen aus Deutschland sowie 19 Personen aus der Ukraine und ihre Angehörigen. Diese waren bereit, als Zeitzeug*innen ihre persönliche Geschichte zu erzählen und davon zu berichten, mit welchen Hürden sie früher und heute konfrontiert sind. Konzeptuell setzt sich die Schau aus narrativen Interviews und dazugehörigen Artefakten aus dem Leben der Protagonist*innen zusammen. Damit soll diesen eine Stimme gegeben und die aktuelle Präsenz im öffentlichen Leben und in der kollektiven Erinnerung gestärkt werden.

Zugleich will die Ausstellung die sogenannten Disability Studies im osteuropäischen Raum unterstützen, die zum Beispiel in der Ukraine bisher noch wenig präsent sind, sowie einen Impuls zur internationalen Vernetzung und Zusammenarbeit geben. Das ursprünglich als trinationales Projekt unter Einbeziehung Russlands geplante Projekt schmolz zu einem binationalen zusammen, nachdem der 1992 gegründete Verein Deutsch-Russischer Austausch (DRA) im Mai 2021 laut den Veranstalter*innen »unter absurden Anschuldigungen von der russischen Generalstaatsanwaltschaft zu einer in Russland unerwünschten Organisation erklärt« worden war. Daraufhin habe die gesamte Projektarbeit mit den Partner*innen in Russland sofort abgebrochen werden müssen, auch um die sieben bereits interviewten Russ*innen nicht zu gefährden, so Zviagintseva.

Bei Gesprächen mit Geflüchteten aus der Ukraine sei ihr bewusst geworden, dass in einem Krieg Menschen mit Behinderung noch einmal ganz anders auf Unterstützung angewiesen seien, sagte die Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke), die zur Eröffnung der Ausstellung in der ASH ein Grußwort hielt. Sie erinnerte in diesem Zusammenhang auch an den kürzlich verstorbenen Ilja Seifert. Der Linke-Politiker war nach einem Unfall querschnittsgelähmt und 1990 Gründungspräsident des ABiD. Mit seinem jahrzehntelangen Engagement für Selbstbestimmung und Würde sowie ein barrierefreies Leben habe er sie immer wieder angestoßen, sich auch selbst für Menschen mit Behinderung einzusetzen, so Pau.

Zviagintseva sagte dem »nd«, in der Ukraine sei die Behindertenbewegung erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 entstanden. »Einen neuen Schub erhielt sie mit den Maidan-Protesten 2013/14, als auch Menschen mit Behinderung sich als Teil der nationalen Bewegung fühlen konnten«, so die Kuratorin. Dennoch lägen zum Beispiel bei der Barrierefreiheit auch unabhängig vom Krieg noch Welten zwischen der Ukraine und Deutschland. Nach Berlin soll die Ausstellung ab Januar 2023 in Leipzig zu sehen sein.

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