»Der Westen denkt nicht mehr historisch«

Der Volkswirt und China-Experte Prof. Dr. Wolfram Elsner über die deutsch-chinesischen Beziehungen

  • Ramon Schack
  • Lesedauer: 5 Min.

Bundeskanzler Olaf Scholz reist am Freitag nach Peking. Was erwarten Sie von diesem Besuch und was würden Sie dem Kanzler raten?

Ich erwarte, dass bei den deutschen Konzernbossen eine Restvernunft geblieben ist und sie sich gegen den weiteren ökonomischen Selbstmord Deutschlands zur Wehr setzen. Ich würde Scholz raten, ein Minimum an Unabhängigkeit und auch ökonomischen Überlebenschancen Deutschlands zwischen Washington und Asien zu bewahren und pragmatische und konstruktive Handels-, Austausch-, Kooperations- und Lern-Beziehungen mit China weiterzuentwickeln. Weiter den Anweisungen aus Washington zu folgen, sich von Südostasien zu entkoppeln und die Welt in zwei isolierte Teile zu zerlegen – was Washington und die Wall Street übrigens selber nicht tun, aber natürlich gern vom Konkurrenten Deutschland verlangen – wäre ein Höhepunkt an Chaotentum.

Interview

Wolfram Elsner, Professor für Volkswirtschaft an der Universität Bremen. Elsner lehrte in Europa, in den USA, Australien, Südafrika, Mexiko, China und ist Gastprofessor der University of Missouri, Kansas City und Jilin, Changchun, China. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen und Lehrbücher. Mit ihm sprach Ramon Schack.

Kann der Bundeskanzler überhaupt eigene geopolitische Strategien verfolgen gegenüber der Volksrepublik China?

Können wir eigentlich nicht mehr normal sein, so, wie wir nach dem Zweiten Weltkrieg eine führende Industrienation geworden sind, mit Warenhandel, Investieren, miteinander reden, voneinander lernen, Win-Win-Situationen entwickeln, wechselseitig profitieren? Können wir eigentlich nur noch drohen und den verlogenen und lächerlichen Wertehammer schwingen? Wollen wir eigentlich noch das gute Leben in der Zukunft und ganz nebenbei auch das ökologische Überleben der Menschheit? Das geht nur noch zusammen mit Chinas enormen Fähigkeiten! oder wollen wir weiter und letztlich, ja nur aus Untergangspanik, aggressiv durch den Porzellanladen wüten? Können wir überhaupt noch Völkerrecht, Diplomatie, Multilateralität, Pragmatismus, Vernunft?

Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas Xi Jinping hatte kürzlich die USA zu einer besseren Zusammenarbeit aufgefordert. Um den Weltfrieden zu sichern, müssten beide Staaten »Wege finden, miteinander klarzukommen«, erklärte Xi .Weshalb haben diese Worte in den westlichen Medien so wenig Widerhall gefunden?

Der Westen scheint ja nur noch aus Untergangsangst zu agieren – und beim eigenen Niedergang so viele mitnehmen zu wollen wie möglich. Wenn in der Wirtschaft ein Unternehmen Marktanteile verliert, nimmt es auch nicht das HK433 und stürmt das Hauptquartier des Wettbewerbers. Es macht vielmehr seine Hausaufgaben, überdenkt seine Strategie und seine Potenziale. Immer mehr Länder wenden sich von der westlichen Chaospolitik ab. Leben und leben lassen ist unsere einzige Chance.

In Washington wird seit geraumer Zeit die Volksrepublik als das ultimative Feindbild Nr. 1 aufgebaut. Ist man im Westen überhaupt daran interessiert, »miteinander klarzukommen«? Geht es nicht vielmehr darum, die eigene Vormachtstellung aufrechtzuerhalten, koste es, was es wolle?

Ich habe nichts gegen die Formulierung »systemischer Konkurrent«, die ja oft schon als Kriegserklärung wahrgenommen wird. Ich halte sie für korrekt. Denn um was geht es denn heute, wenn nicht um einen Wettbewerb der Systeme, in dem die Völker und Nationen aufgebrochen sind, ihre jeweiligen besten Wege zu finden, abseits von den alten Parolen und »Lösungen« des alten kolonialen Europa und des letzten Imperiums mit Weltbeherrschunganspruch?

Haben Sie den Eindruck, dass sich am Beispiel Chinas offenbart, in welchem Ausmaß den Europäern und Amerikanern das geschichtliche Bewusstsein abhanden gekommen ist?

Der Westen denkt nicht mehr historisch und nicht mehr strategisch, nicht mehr länger als bis zur nächsten Wahl oder zum nächsten »Sieg« im Krieg, und oft viel kürzer. In Ostasien denkt man komplex statt linear. Ein Land wie China mit mindestens 5000 Jahren Hochkultur, Philosophie, Wissenschaft »unsere Werte« mit dem Hammer auf den Kopf hauen zu wollen und unsere »Lösungen« aus vielleicht 400 Jahren Geschichtserfahrung, die europäisch-angelsächsische Weltbeherrschung und Ausbeutung als die Vollendung und das Ende der Geschichte verkaufen zu wollen, ist nicht nur geschichtsvergessen, es ist lächerlich, bewegt sich auf der nach unten offenen Dummheitsskala bei minus unendlich.

In Ihrem Buch »China und der Westen/Aufstieg und Abstiege« beschreiben Sie, wie die westliche Welt dem phänomenalen Aufstieg Chinas in den Rang einer Weltmacht mit einem Gemisch aus Arroganz und Missgunst begegnet. Glauben Sie, dass die explosive Dynamik Chinas wachsende Furcht erzeugt im Westen, ja die Ahnung des eigenen Rückfalls in unerträgliche Mittelmäßigkeit?

Wenn ein Land wie China mit 19 Prozent der Weltbevölkerung, zudem mit hohen kombinierten privaten, kollektiven und staatlichen Handlungsfähigkeiten, nicht die ökonomisch führende Nation wäre, wäre das unnormal. Insofern versuche ich, mit meinen Büchern wenigstens die dem Selbstverständnis nach selbstkritischen Bildungsmenschen des Westens (die jedoch auch vielfach verängstigt und dadurch dogmatisch geworden sind) zu beruhigen und zur selbstkritischen Neuverortung in einer drastisch veränderten Welt zu motivieren: Was wir erleben, ist ja eine neue, jahrtausendalte historische Normalität, in der China immer über 30 Prozent des Weltsozialprodukts geschaffen hat. Deshalb: Scheuklappen weg, die mediale Käseglocke des Westens hochheben, die frische Luft aus einer sich verändernden Welt reinlassen und endlich wieder angstfrei über nötige Veränderungen bei uns nachdenken.

Könnten Sie bitte erläutern, wie das außenpolitische Vorgehen Berlins gegenüber der Volksrepublik, beispielsweise der Besuch von Bundestagsdelegationen auf Taiwan, in Peking interpretiert wird?

Ich empfehle meinen Leserinnen und Lesern seit Jahren, sich international und vielfältig zu informieren. Zum Beispiel einmal auf den Seiten der Uno, Undp, Unep oder Unesco zu recherchieren. Die Geschichte der Besiedlung Taiwans durch Chinesen, ebenso wie die Uno-Resolution 2758 vom Oktober 1971 zur Kenntnis zu nehmen. Die Politiker des EU-Parlaments, des Bundestages und des US-Kongresses haben sich in Sackgassen manövriert und haben keinen Plan B, wie sie da jemals wieder herauskommen wollen. Außer vielleicht durch Chaos und Krieg, mit dem sie hoffen, irgendwie wieder nach oben gespült zu werden. 80 Prozent der Menschen in Taiwan wollen am Status quo der faktischen wirtschaftlichen Verschmelzung mit dem Festland, der ihnen erhebliche Vorteile bringt, nicht rütteln. Ich habe selbst in Taipei gelehrt und weiß, dass die Guomindang, die auf Wiedervereinigung setzt, die nächsten Wahlen gewinnen und sich so das Blatt schnell wenden könnte.

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