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Die Privatsphäre wird abgeschafft
Das chinesische Sozialkreditsystem belohnt wünschenswertes Verhalten. Ein niedriger Punktestand kann zu Nachteilen im Alltag führen. Überprüfen oder gar anfechten lässt sich die Einstufung nicht
Der Aufschrei in den westlichen Medien war groß, als vor einigen Jahren das Ausmaß des geplanten chinesischen Sozialkreditsystems deutlich wurde. Die Idee hinter dem neuen Bonitätssystem, das bald in ganz China eingeführt werden soll, klingt nach einem nie dagewesenen Vorhaben: ein geheimer Algorithmus, der das Online- und Offline-Verhalten aller Chines*innen bewertet – zum Beispiel mit der Vergabe von Plus- und Minuspunkten – und so darüber entscheidet, wem aufgrund seines Verhaltens Vorteile gewährt und wem Freiheiten entzogen werden sollen.
Gerade die Sanktionen einiger Systeme, die seit 2014 testweise im Einsatz waren, hatten es in sich – von Orwellscher Überwachung war die Rede. Dabei sind sich China-Expert*innen nicht einig, wie umfassend und gefährlich das Sozialkreditsystem wirklich ist. Vincent Brussee vom Mercator Institute for China Studies (MERICS) beispielsweise schreibt in einem Artikel für Foreign Policy, dass er das Sozialkreditsystem für »eigentlich ziemlich langweilig« halte. Die jüngste Version sei im Grunde genommen nicht viel mehr als ein die Provinzen übergreifender Datenaustausch verschiedener Behörden. So könnten Kriminelle nicht mehr einfach, wie in der Vergangenheit vielfach geschehen, in die Nachbarprovinz übersiedeln und dort ungestraft ihre kriminellen Machenschaften fortführen. »Die Überwachung und Unterdrückung von politisch Andersdenkenden oder Minderheiten wurde anderen, stärker in die Privatsphäre eingreifenden Initiativen überlassen«, heißt es in dem Beitrag. Gemeint sind die Internet-Zensur und die »Adleraugen«, also die mit Gesichtserkennungssoftware ausgestatteten Überwachungskameras, mit deren Hilfe laut Betreiber im ganzen Land auch in großen Menschenmengen einzelne Personen ausgemacht werden können.
Die Polizei veröffentlicht immer wieder Erfolgsgeschichten, etwa wenn wieder einmal ein*e Kriminelle*r auf einem Konzert mit 60 000 Besucher*innen vom System erkannt und kurz darauf völlig überrascht von der Polizei abgeführt wird. Noch in diesem Jahr soll das Netz so weit ausgebaut sein, dass auf jede zweite Person in China eine Überwachungskamera kommt. Aber das ist nach Ansicht Brussees nicht Bestandteil des Sozialkreditsystems. Im Gegensatz dazu schaut unter anderem der Trierer Professor für Sinologie Sebastian Heilmann seit jeher mit Sorge auf das Bonitätssystem, weil er eine zunehmende Beschneidung der Freiheit chinesischer Bürger*innen im Sinne Orwells fürchtet. Wie kommt es, dass es beim Sozialkreditsystem so unterschiedliche Meinungen gibt?
Die Einschätzung des Sozialkreditsystems ist deshalb so schwierig, weil bisher nicht festgelegt wurde, was es in seiner landesweit eingesetzten Endversion umfassen wird, die in den nächsten Jahren implementiert werden soll. Das Ziel hingegen wurde eindeutig formuliert: Die gesellschaftliche Stabilität soll durch das System gestärkt und die Kriminalität bekämpft werden. Zur Vereinfachung kann man sich an dieser Stelle zwei mehr oder weniger voneinander losgelöste Sozialkreditsysteme vorstellen, eins mit dem Schwerpunkt auf Unternehmen, Behörden und Institutionen, das andere auf Privatpersonen.
Ersteres ist schon heute ein fester Bestandteil des chinesischen Marktes. Alle Akteure müssen sich an die Spielregeln halten, Forderungen der Regierung nachkommen und entsprechende Zugeständnisse machen. Tun sie das nicht, drohen schlechte Bewertungen, der Entzug oder die Nichtverlängerung von Lizenzen und Geldbußen. Mehrere Industrie- und Handelskammern stellen inzwischen einen Leitfaden zum Sozialkreditsystem für Unternehmen bereit, um diesen den Markteintritt und -verbleib in China zu erleichtern.
Im Gegensatz dazu wird das Bonitätssystem für Privatpersonen derzeit überarbeitet und soll wohl in den kommenden Jahren landesweit eingeführt werden. Schon 2014 war klar, dass dabei lokale Gegebenheiten der unterschiedlichen Regionen Chinas berücksichtigt werden sollen. Seitdem wurde es de facto nie klar eingegrenzt. Das führte vielfach dazu, dass lokale Parteikader eigene Experimente starteten, wie ihrer Meinung nach das Sozialkreditsystem am besten auszusehen hätte.
Das hatte mitunter schwerwiegende Folgen: Manche Punktesünder*innen landeten auf schwarzen Listen, woraufhin ihnen der Kauf von Flugtickets, berufliche Beförderungen und vieles andere verwehrt wurden. Benachbarte Familien wurden aufgefordert, sich gegenseitig zu bespitzeln. Partnerbörsen befürworteten einen hohen Punktestand als neue Vertrauenswährung, ohne den Singles schwerer zu vermitteln seien.
Besonders große Irritation rief das lokale Sozialkreditsystem in der Stadt Rongcheng hervor: Das Spielen von Computerspielen ergab hier Minuspunkte, der Kauf von Windeln Pluspunkte – ersteres zeuge von Trägheit, letzteres von Pflichtbewusstsein. Solche und ähnliche Bewertungsmethoden, die wenig über die Zahlungsfähigkeit der Bürger*innen aussagen, ernteten vielfach Unverständnis. Allerdings regte sich erst mit der Zeit Kritik am Sozialkreditsystem als Ganzes.
Noch 2018 legte Professor Genia Kostka von der Freien Universität Berlin eine Studie vor, die belegt, dass ein Großteil der teilnehmenden Chines*innen die Testprojekte als Gewinn für die Gesellschaft ansahen. So gaben 80 Prozent der Teilnehmer*innen an, mit dem Sozialkreditsystem »zufrieden« oder »sehr zufrieden« zu sein. Vielfach wurde das damit begründet, dass das System Kriminelle bestrafe und Vertrauenswürdigkeit belohne, das sei schließlich etwas Gutes. Anscheinend hält die Zustimmung jedoch nur solange, bis man selbst in die Mühlen gerät: Inzwischen sind die kritischen Stimmen lauter geworden. Die Missachtung des Datenschutzes ist dabei das geringste Problem, da Chinas Gesetze bisher ohnehin nur rudimentär eingehalten wurden.
Und die Privatsphäre? »Haben wir denn überhaupt noch eine Privatsphäre?«, fragt Herr Chen, ein chinesischer Unternehmer. Nein, es geht vielmehr um die Ohnmacht der Bevölkerung. Zum Beispiel konnte der eigene Name nicht von einer schwarzen Liste gestrichen werden, wenn er erst einmal darauf stand, auch nicht, wenn es sich dabei um einen Irrtum der zuständigen Behörde handelte. So einfach war das: Nur wer sich im Sinne der Kontrollorgane verhielt, etwa einer ehrenamtlichen Arbeit nachging, Geld spendete oder immer brav seine Eltern besuchte, bekam Pluspunkte gutgeschrieben. Wer hingegen politisch auffiel oder gegen die Anordnungen verstieß, bekam Minuspunkte. Das System hinterfragen oder Minuspunkte anfechten konnte man als Bürger*in nicht. Wie die eigene Beurteilung zustande kam und welche Informationen in die Bewertung einflossen, bleibt jedoch in den meisten Fällen ein Rätsel.
Lao Dongyan, Rechtswissenschaftler der Pekinger Tsinghua-Universität, erkennt darin eine Abkehr vom Strafrecht, das im Grundsatz von der Unschuld einer Person ausgehe. »Es wird angenommen, dass jeder Mensch ein Risiko für die öffentliche Sicherheit darstellt«, zitiert ihn die »Süddeutsche Zeitung«. Der Journalist Zhang Yuzhe ist sich zudem sicher, dass solche Systeme leicht manipuliert werden können. Er nennt den Fall eines Polizisten, der sich vor dem Mittleren Volksgericht wegen des Vorwurfs der Korruption verantworten musste. Er hatte in sechs Jahren mehr als 400 000 Knöllchen verschwinden lassen, indem er Bußgelder und Strafpunkte auffällig gewordener Autofahrer*innen aus dem staatlichen Computer löschte. Dafür kassierte er 42,4 Millionen Yuan (rund 5,6 Millionen Euro).
Solche oder ähnliche Manipulationen wären auch am Sozialkreditsystem möglich. Wie soll so etwas verhindert werden? Zhangs Frage klingt fast wie ein Wunsch: Wer kontrolliert die Kontrolleure? Die Kritik am Sozialkreditsystem kann wohl noch so gut begründet sein – sie wird größtenteils ignoriert. Andererseits ist die chinesische Regierung nicht dumm. Sie wird so manchen Fehler von früher nicht wiederholen. Sollte tatsächlich flächendeckend ein Bonitätssystem auch für Privatpersonen eingeführt werden, wird es wohl von neuen Gesetzen begleitet und gestützt werden. Ob das dem chinesischen Volk zum Vorteil gereicht, ist zu bezweifeln.
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