»Georgien ist sehr patriarchalisch«

Menschenrechtsanwältin Tamar Dekanosidze über die Rechte von Frauen und Mädchen in Georgien

  • Sarah Tekath, Amsterdam
  • Lesedauer: 6 Min.
Demonstrantinnen beim Frauenmarsch in Tiflis
Demonstrantinnen beim Frauenmarsch in Tiflis

Frau Dekanosidze, was sind Probleme, mit denen Frauen in Georgien konfrontiert werden?

Interview

Tamar Dekanosidze arbeitet als Menschenrechtsanwältin seit 2018 in Georgien bei der NGO Equality Now, die sich für die Rechte
von Frauen und Mädchen weltweit einsetzt. Als Regionalbeauftragte für Eurasien kämpft sie dafür, dass Frauen und Mädchen frei von Gewalt und Diskriminierung leben können
und im Falle sexueller und anderer geschlechts­­spezifischer Gewalt Zugang
zur Justiz haben. Auch wenn die Gesetzeslage in Georgien vielversprechend ist, sieht die Praxis in der Gesellschaft anders aus. Mit Dekanosidze sprach Sarah Tekath.

Gewalt gegen Frauen ist ein ernstes Problem, insbesondere sexuelle und häusliche Gewalt. Obwohl sich in den letzten Jahren in der Gesetzgebung, im Rechtssystem und in der Strafjustiz viel getan hat, gibt es immer noch Probleme. Georgien hat 2017 die Istanbul-Konvention ratifiziert. Dennoch wurde das Problem der Gewalt gegen Frauen in der Vergangenheit übersehen. Es wurde erst 2014 Teil der öffentlichen Debatte, als bekannt wurde, dass 35 Frauen von ihren Ehemännern oder Ex-Ehemännern getötet wurden. Für ein so kleines Land ist das eine enorme Zahl. Im selben Jahr begannen Aktivist*innen und die Regierung, sich mehr mit diesem Thema zu befassen.

Wie ist die Rechtslage bei Vergewaltigung, Abtreibung oder Gewalt?

Häusliche Gewalt ist strafbar mit bis zu drei Jahren Gefängnis, bei schweren Schäden oder Körperverletzungen sogar länger. Das Gesetz zu häuslicher Gewalt wurde 2006 verabschiedet, seit 2012 steht diese unter Strafe. Auch sexuelle Belästigung ist strafbar. Sexuelle Gewalt und Vergewaltigung sind strafbar, ebenso wie andere Formen der sexuellen Gewalt. Aber die Art, wie diese Straftaten im Gesetz formuliert sind, entspricht nicht den internationalen Standards.

Was heißt das?

Die Definition von Vergewaltigung basiert nicht auf dem Fehlen der Zustimmung, sondern auf der Anwendung von Gewalt, Drohungen und Hilflosigkeit, was unzureichend ist und bestimmte Täter straffrei lässt. Schwangerschaftsabbruch ist bis zum dritten Monat der Schwangerschaft legal. Nach dem dritten Schwangerschaftsmonat gibt es einige Ausnahmen, zum Beispiel die gesundheitliche Situation oder für die Altersgruppen von unter 15 und über 49 Jahren.

Wie werden die Opfer behandelt, wenn sie eine Straftat anzeigen?

Die Situation ist nach wie vor sehr bedrückend, weil die Opfer sexueller Gewalt auf den Polizeistationen oft mit Unglauben konfrontiert werden. Es wird geprüft, ob sie lügen, denn es herrscht die weitverbreitete Auffassung, dass Frauen Vergewaltigungen erfinden. Bei den Ermittlungen müssen die Opfer eine Reihe sehr traumatischer Verfahren durchlaufen: Sie werden mehrmals befragt und müssen die Geschehnisse immer wieder erinnern. Außerdem müssen sie sich einer intrusiven medizinischen Untersuchung unterziehen, oft mit der Kontrolle des Jungfernhäutchens.

Wie verarbeiten die Frauen und Mädchen diese Erfahrung?

Die Opfer berichten, dass der Untersuchungsprozess oft sehr traumatisch ist, manchmal so traumatisch, dass er einer Vergewaltigung gleichkommt. Ein weiteres Problem sind die sehr hohen Anforderungen an die Beweisführung, die in der Mehrheit der Vergewaltigungsfälle einfach nicht erfüllt werden können. In den meisten Fällen, in denen Täter verurteilt wurden, gab es beispielsweise Beweise für körperliche Verletzungen und biologisches Material des Täters am Körper des Opfers: Sperma, Schweiß oder Ähnliches. Oft ist es aber unmöglich, solche Beweise zu erbringen, weil etwa zwischen der Tat und der Anzeige des Verbrechens Zeit vergangen ist.

Wie kann das geändert werden?

Equality Now hat mit Unterstützung des Europarats und von UN Women sowie der Staatsanwaltschaft und des Innenministeriums ein Handbuch zur Untersuchung, Verfolgung und Beurteilung von Verbrechen sexueller Gewalt entwickelt. Es ist das erste Handbuch dieser Art in Georgien, das auf internationalen Standards beruht. Damit haben wir Ermittler, Staatsanwälte, Richter und Rechtsanwälte geschult. Im vergangenen Jahr haben wir damit recht gute Fortschritte erzielt. Im Jahr 2021 wurde beispielsweise im Vergleich zu 2020 die Zahl der Strafverfolgungen wegen Vergewaltigung um 76 Prozent und die Zahl der Verurteilungen um 44 Prozent erhöht. Trotzdem gibt es immer noch zu viele Fälle, die nicht strafrechtlich verfolgt und vor Gericht gebracht werden.

Wie werden männliche und weibliche Sexualität gesehen?

Georgien ist sehr patriarchalisch und die Sexualität der Frauen wird sehr stark kontrolliert. Selbst heute, im Georgien des 21. Jahrhunderts, ist die höchste Tugend einer jungen Frau ihre Jungfräulichkeit. In der Hauptstadt sehen Menschen das vielleicht moderner, aber auf dem Land nicht. Es wird mit zweierlei Maß gemessen, wenn es um die Sexualität von Männern und Frauen geht. Von Männern wird erwartet, dass sie so viele Partnerinnen wie möglich haben, sie sollten alle sehr erfahren sein. Je mehr Sexualpartnerinnen ein Mann hat, umso besser. Bei Frauen ist es genau umgekehrt: Frauen sollten alle jungfräulich sein.

Warum sind Kinderehen und Brautentführung immer noch ein Thema?

Im Jahr 2018 schätzte Unicef, dass die Zahl der Mädchen, die im Alter von unter 18 Jahren verheiratet wurden, bei 14 Prozent lag. Wobei das Gesetz sagt, dass das Heiratsalter 18 Jahre beträgt, ohne Ausnahmen. Die Unicef-Studie zeigt aber auch: Diese Frauen, die unter 18 Jahren verheiratet waren, sind heute unter 30. Das heißt, wir sprechen nicht von Frauen, die über 70 sind oder aus früheren Generationen stammen, in denen Kinderehen noch häufiger waren. Die Mädchen werden von dem Mann oder seiner Familie entführt, der Mann vergewaltigt das Mädchen, und durch die daraus resultierende fehlende Jungfräulichkeit hat sie keine Chance mehr, wieder zu heiraten. Sie ist also quasi gezwungen, bei dem Täter zu bleiben. Sie muss den Mann theoretisch nicht heiraten, aber es lastet ein großer Druck auf ihr, denn sie ist jung und ihre Familie unterstützt sie nicht.

Warum verheiraten Familien ihre Töchter in so einem jungen Alter?

Da gibt es mehrere Gründe. Einer davon ist, dass die Eltern ihre Töchter aufgrund der wirtschaftlichen Lage zur Heirat ermutigen, weil sie sie nicht unterstützen können. Sie hoffen darum auf die finanzielle Unterstützung durch den Ehemann. Ein weiterer Grund ist, dass sie vielleicht keinen großen Erfolg in der Schule sehen und davon ausgehen, dass sie in keinem Beruf erfolgreich sein wird. Da wären ein Ehemann und eine Familie die beste Absicherung. Aber ich denke, der Hauptgrund für Kinder- und Frühehen ist die patriarchalische Gesellschaft, die die Sexualität der Frauen kontrolliert. Denn Frauen dürfen vor der Ehe keinen Sex haben, und demnach ist für junge Mädchen die Heirat eine der wenigen Möglichkeiten, sexuell aktiv zu sein, ohne eine gesellschaftliche Ächtung zu erleben.

Was muss sich in der Gesellschaft ändern, damit sich die Situation der Frauen verbessert?

Mehr Respekt für die Autonomie der Frauen. In der Gesellschaft müssen Frauen den gleichen Wert haben wie Männer, und die besitzergreifende Haltung der Männer gegenüber Frauen, ihr kontrollierendes Verhalten und ihr Anspruchsdenken müssen verschwinden.

Wie sehen Sie persönlich die Zukunft der Frauen in Georgien?

Ich denke, dass das Empowerment von Frauen und der Fortschritt in Sachen Gleichberechtigung einfach unvermeidlich sind. Vielleicht bin ich zu optimistisch, aber ich habe immer noch die Hoffnung, dass in der modernen Welt kein Platz mehr ist für geschlechtsspezifische Ungleichheit und geschlechtsbezogene Diskriminierung. Diese Art von Einstellungen passen nicht wirklich zur Realität des modernen Lebens.

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