»Demokratie wurde hier nie praktiziert«

Pater José María Fojeira über den Ausnahmezustand in El Salvador

  • Andreas Boueke
  • Lesedauer: 5 Min.
Demonstration am 30. Juli in San Salvador gegen den Ausnahmezustand und im Gedenken an das Massaker an Studenten vor 47 Jahren.
Demonstration am 30. Juli in San Salvador gegen den Ausnahmezustand und im Gedenken an das Massaker an Studenten vor 47 Jahren.

Was denken Sie über den gegenwärtigen Ausnahmezustand in El Salvador?

Interview


Pater José María Tojeira kam vor über fünf Jahrzehnten aus Spanien nach Mittelamerika. Als im Jahr 1989, während des salvadorianischen Bürgerkriegs sechs Jesuiten sowie eine Haushälterin und ihre Tochter in der katholischen Universität UCA von einem Bataillon der Armee ermordet wurden, war er nur 40 Meter entfernt. Damals leitete der Ordensbruder das Institut für Menschen­rechte. Heute ist er Priester der Kirchengemeinde Del Carmen in der Stadt Santa Tecla.

Auf dem Papier ist das Gesetz fragwürdig, aber formal legal, doch in der Umsetzung geht jegliche Legalität verloren. Es gibt Zehntausende Festnahmen ohne Haftbefehl, ohne Beweise, nur auf Grund von Vermutungen oder anonymen Hinweisen. Jugendliche werden wie Erwachsene behandelt. Die Liste der Verstöße gegen nationales und internationales Recht ist lang.

Was will die Regierung damit erreichen?

In der Theorie ist das Ziel positiv. Der Staat soll mehr Durchsetzungskraft im Kampf gegen die kriminellen Banden bekommen. Aber in der Praxis ist ein Desaster der Willkür entstanden, das mit den illegalen Inhaftierungen beginnt und bis zu Folter und Mord reicht. Die meisten Probleme gibt es in den Gebieten, die von der Polizei als besonders risikoreich bezeichnet werden. Dort nimmt sie jeden jungen Mann mit, den sie schnappen kann.

Gibt es nicht zumindest einige Charakteristika, nach denen Verdächtige ausgewählt werden?

Neulich habe ich mich mit einigen Priestern und Nonnen getroffen, um über die Situation zu sprechen. Ein Theologiestudent sollte auch dazukommen. Aber auf dem Weg zum Konvent wurde er festgenommen. Es gelang ihm, uns anzurufen. Daraufhin eilten wir zu der Straßenkontrolle. Trotz der bewaffneten Soldaten sind die Nonnen mutig in den gesicherten Bereich eingedrungen. So konnten sie den Kommandanten zur Rede stellen und den jungen Mann rausholen. Aber all die anderen wurden an die Polizei übergeben. Die entscheidet, ob jemand freigelassen wird oder nicht. Nahezu niemand kommt frei.

Was geschieht nach einer Festnahme?

Ich weiß zum Beispiel von einer ersten Verhandlung für 300 Angeklagte. Die Richterin hat der Staatsanwaltschaft viel mehr Zeit eingeräumt als den Verteidigern. Einen Stapel Unterlagen, der die Unschuld vieler Angeklagter hätte beweisen können, hat sie nicht einmal angeschaut. In nur vier Stunden traf sie die Entscheidung, alle 300 Personen für mindestens sechs Monate in Untersuchungshaft zu sperren. Auf das endgültige Urteil werden die meisten noch viel länger warten müssen.

Wie konnte es zu solchen Zuständen kommen?

Die Regierung argumentiert, sie sei in einem langen Krieg gegen das organisierte Verbrechen. Deshalb müsse der Ausnahmezustand immer wieder verlängert werden. So entsteht eine schlimme Krise, vor allem in den Gefängnissen. Schon in der Vergangenheit hat es dort Epidemien gegeben, Tuberkulose zum Beispiel; außerdem nimmt die Gewalt und die Zahl der Morde innerhalb der Haftanstalten zu.

Aber El Salvador ist doch ein demokratischer Staat, oder?

Nicht wirklich. Dies ist ein formal demokratisches Land, das die Demokratie nie praktiziert hat. Die gegenwärtige Situation ist tatsächlich besonders extrem, aber im Grunde genommen war es schon immer so. Deshalb hoffen so viele Leute auf den Erfolg autoritärer Lösungen. In Wahrheit ist die Demokratie in allen Bereichen gescheitert, in der Wirtschaft, in den Besitzverhältnissen, im fehlenden Ausgleich der extremen Wohlstandsunterschiede.

Geht es in dieser Situation auch um Konflikte zwischen Arm und Reich?

Dies ist eine Gesellschaft der Klassenunterschiede. In den wohlhabenden Bezirken der Städte rauchen die Leute soviel Marihuana, wie sie wollen, ohne belästigt zu werden. Die jungen Leute auf dem Land hingegen kommen dafür ins Gefängnis. Sie haben keine Chance, eine Anstellung zu finden. Über 80 Prozent der jungen Erwachsenen haben keinen Sekundarschulabschluss, und wenn sie doch einen schaffen, dann ist ihr Bildungsniveau trotzdem völlig unzureichend. Die Jugend von heute hat drei Optionen: Sie ist dazu verdammt, zwischen Armut, Kriminalität und Migration zu wählen.

Was tut die Regierung von Präsident Nayib Bukele dagegen?

Viel zu wenig, aber die vorherigen Regierungen waren auch nicht besser. Vielleicht sind die gegenwärtigen Politiker noch dreister, aber im Grunde leidet das Land schon lange unter extremer Gewalt, unter furchtbarer Armut und unverfrorener Korruption. Auch deshalb unterstützt ein großer Teil der Bevölkerung den Ausnahmezustand. Außerdem hilft es nicht, dass die entwickelten Länder im Norden kein wirkliches Interesse daran haben, was in den armen Ländern geschieht.

Gibt es keine Opposition?

Diese autoritäre Regierung hat kein Problem damit, das Gesetz nach ihrem Gutdünken auszulegen. Die einflussreichen Leute in der Gesellschaft trauen sich nicht, Kritik zu üben. Zurzeit protestieren nur ein paar Menschenrechtsgruppen. Ich selbst habe schon über solches Unrecht geschrieben, als Sie noch gar nicht Journalist waren. An der Universität habe ich die Leichen meiner ermordeten Kollegen gesehen. Ich sage die Wahrheit und bringe mich damit in Gefahr. Was soll ich noch tun?

Wie steht die katholische Kirche zu dem Ausnahmezustand?

In der Kirche gibt es wenige Personen, die sich mit Rechtsfragen beschäftigen. Wir bieten zwar Seminare zu Menschenrechtsthemen an, und es gibt ein paar kleine Einheiten für legale Beratung, aber gemeinhin bemüht sich die Kirche, die Dinge ohne juristische Konflikte zu klären. Das bedeutet aber nicht, dass kritische Stimmen zum Schweigen gebracht werden. Ganz ehrlich: Wenn ich mich öffentlich äußere, dann fühle ich mich von der Kirche unterstützt. Manche Bischöfe vermeiden öffentliche Auseinandersetzungen mit der Regierung, weil sie nicht die Möglichkeit aufs Spiel setzen wollen, den Familien zu helfen und vielleicht einzelne Unschuldige aus dem Gefängnis zu holen.

Wie wird es weitergehen?

Im Moment sehe ich keinen Ausweg. Wir müssen geduldig sein. Ich bin mir sicher, dass dieses Desaster früher oder später zu einem politischen Scheitern führen wird. Die schiere Zahl der Fälle und die zunehmenden Probleme werden das Bewusstsein der Menschen schärfen.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.