Im Totenhaus

Die Liebe zum Leben kann in Sicherungsverwahrung nicht entstehen, so unser Autor in seinem Erlebnisbericht über ein Jahrzehnt in der JVA Freiburg

  • Thomas Meyer-Falk
  • Lesedauer: 7 Min.

Shorty ist Mitte 40, er sitzt seit vielen Jahren in Sicherungsverwahrung. Wer ihn kennenlernt, denkt sich erst mal, der ist doch kaum älter als 20. Er bringt jedoch eine typische Vollzugsbiografie mit: Als Kind Heimaufenthalte, inklusive erlebter Misshandlungen, früher Eintritt in den Jugendstrafvollzug, danach, nachdem er unter Drogeneinfluss Einbrüche begangen und ältere Frauen vergewaltigt hatte, langjähriger Strafvollzug. Nach Absitzen der regulären Strafe kam die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung. Handwerklich sehr begabt, aber durch langjährigen Drogenkonsum, ADHS, dem sogenannten Zappelphilip-Syndrom, und einer nie wirklich gelungenen Sozialisierung, im Haftalltag ziemlich auffällig. Er bringt mit seinen Ideen viele zum Lachen – und das Personal zum Verzweifeln. Da sind die Namensschilder an den Büros, die er auswechselt, so wird aus dem »Stationsleiter«, der »Stationseiter«, der Müllraum ist plötzlich mit dem Schild des vorgesetzten Bereichsleiters versehen. Mal hat er eine Fledermaus, ein anderes Mal einen Raben in seiner Zelle. Letzterer flog dann quer über den engen Stationsflur und verkackte alles – endlich mal pulsierendes Leben im von manchen Insassen nur noch sarkastisch »Totenhaus« genannten Bereich der Sicherungsverwahrung. Denn sie sterben hier. Liegen die Nacht über tot in ihren Zellen, wo sie erst morgens aufgefunden werden. Sie fallen tot im Gefängnishof um. Sie schlafen friedlich im Freizeitraum ein, wo sie Stunden später von Mitinsassen gefunden werden.

Mir begegnen zudem Menschen mit Schlaganfällen. Ebenso jene, die nur noch mittels Rollator unterwegs sein können, und wir hatten auch schon Männer in Rollstühlen auf den Stationen. In Erinnerung ist mir auch M., er war einige Jahre mein direkter Zellennachbar. Nach einer Operation in der Leistengegend musste er zur Wundheilung ins Gefängniskrankenhaus Hohenasperg, dort geriet die Wundheilung außer Kontrolle und ihm wurde das ganze Bein amputiert. Als er nach Monaten soweit wiederhergestellt war, dass man ihn vom Gefängnishospital zurück in die Strafanstalt verlegen konnte, kam er wieder in die Justizvollzugsanstalt Freiburg. Hier hatte man extra Personal für ihn eingestellt, welches ihn nachts, wenn eigentlich alle Insassen in ihren Zellen weggeschlossen sind und deshalb viel weniger Personal in den Anstalten präsent ist, im Bett drehen sollte, damit er sich nicht wundliege. Er überlebte den Transport jedoch um nur wenige Stunden: Kaum in der Justizvollzugsanstalt angekommen, starb er am Folgetag. Wir sehen: Auch der bettlägerige Einbeinige scheint noch eine hohe Gefahr für die Gesellschaft darzustellen.

Zu einem ernüchternden Ergebnis kam erst im Mai das Landgericht Freiburg. Es musste über die Schuld zweier Mittdreißiger befinden, beide in Sicherungsverwahrung, angeklagt, andere Insassen verprügelt und in einem Fall sogar geplant zu haben, einen von ihnen zu ermorden. Als »Rattengift-Prozess« machte das Verfahren regional Schlagzeilen, denn die Angeklagten sollten das Gift aus den im Gefängnishof stehenden Fallen entnommen haben. Von dem Mordvorwurf wurden sie freigesprochen, denn in der Verhandlung kam der Verdacht auf, das angebliche Opfer habe die Sache inszeniert, vielleicht um sich an den beiden zu rächen. Jedenfalls zeichnete die Vorsitzende Richterin in ihrer mündlichen Urteilsbegründung ein bedrückendes Bild von den Haftumständen in der Sicherungsverwahrung. Etwaige Ziele, wie das Erlernen sozialen Verhaltens, seien dort wohl kaum erreichbar.

Nachdem schon in der Weimarer Republik darüber diskutiert wurde, als »gefährlich« eingestufte Gefangene auch nach der Zuchthaus- oder Freiheitsstrafe weiter in Haft halten zu können, wogegen sich Kurt Tucholsky in der »Weltbühne« vehement aussprach, blieb es den Nationalsozialisten vorbehalten, mit dem »Gewohnheitsverbrechergesetz« vom 24. November 1933 die sogenannte Maßregel Sicherungsverwahrung in das damalige Reichsstrafgesetzbuch aufzunehmen. Nunmehr konnten die Einsperrten auch noch über die eigentliche Haftstrafe hinaus in den Gefängnissen festgehalten werden.

Das Oberste Gericht der DDR verbot in den 1950er Jahren die Anwendung der Sicherungsverwahrung, da sie »nationalsozialistischen Ungeist« atme, wohingegen die Gerichte im Westen solche Bedenken nie hegten und großzügig von der Maßregel Gebrauch machten. So landeten neben Sexual- und anderen Gewaltstraftätern viele Betrüger, Einbrecher und Diebe in der Sicherungsverwahrung. Es genügte ein mittelschwerer finanzieller Schaden, den die Rechtsprechung schon bei wenigen Hundert Mark unterstellte.

Heute kann die Sicherungsverwahrung im Regelfall nur noch wegen schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten angeordnet und vollstreckt werden. Momentan sitzen etwa 600 Männer und weniger als eine Handvoll Frauen in den Trakten der Sicherungsverwahrungsabteilungen. Diese sind jeweils Strafanstalten angegliedert, beispielsweise in Berlin-Tegel, Bautzen oder Freiburg.

Zurück zu dem Gefangenen mit dem Spitznamen Shorty: In den Jahren der Sicherungsverwahrung nimmt er diverse therapeutische Angebote an, von Bewegungstherapie bis zu einem speziellen Gruppenprogramm für Sexualtäter. Er steht offen zu seinen Taten und bekundet Scham und Reue. Er beteuert immer wieder, jetzt, nach über 20 Jahren hinter Stacheldraht, Gittern und Mauern, sei ihm klar, er werde nie wieder andere Menschen verletzen. Dies genügt jedoch nicht ansatzweise, um freigelassen zu werden, denn die Anstalt und die Gutachter gehen davon aus, dass es keinen tiefgreifenden inneren Wandel in seiner Persönlichkeit gegeben habe, er lediglich verbal beteuere, nun alles einzusehen. Und so wird sein Verhalten zusehends destruktiver, wenn auch zu seinem eigenen Schaden; Fremdaggressionen gab es so gut wie keine. Zuletzt bastelte er eine kleine Armbrust, wohl wissend, dass so etwas in einer Justizvollzugsanstalt für Riesenärger sorgen würde. Es kam dann, wie es kommen musste, das Wachpersonal fand die Armbrust und er landete für viele Monate in strenger Einzelhaft. In der Sicherheitszelle mit Stahltoilette und an den Boden festgeschraubtem Bett fing er später aus Protest an, in die Zelle zu pinkeln, aber auch, durch einen schmalen Spalt in der Zellentüre, hinaus auf den Flur. Die Zellenwände verschmierte er mit Nudeln, Soßen und anderem.

Regressive Verhaltensmuster sind gerade im Bereich der Sicherungsverwahrung immer wieder zu beobachten. Sind Gefängnisse doch per se keine Orte, an denen Menschen mit kaputten Biografien wirklich die Liebe zur Freiheit und die Liebe zu leben lernen, weshalb immer wieder der Ruf zu hören ist, es müssten Alternativen her, Gefängnisse gehörten abgeschafft. Vereinzelt unterstützen sogar ehemalige Gefängnisdirektoren wie Thomas Galli, lange Jahre Gefängnisjurist in Bayern und zuletzt in Sachsen Leiter einer Haftanstalt, solche Forderungen. Auch international wird sich zusehends vernetzt, um Alternativen zum Strafvollzug aufzuzeigen, wie das vor wenigen Jahren veröffentlichte »No Prison Manifesto« von Rechtswissenschaftler*innen, Kriminolog*innen und Theolog*innen zeigt.

Als Shorty und ich noch auf derselben Station wohnten, er am einen Ende des Flurs, ich am anderen, trafen wir uns morgens erst mal zum Kaffee, manchmal auch zum Schachspielen. Oder wir berieten über rechtliche Fragen: Wie könnten wir gegen Maßnahmen der Leitung der Justizvollzugsanstalt möglichst erfolgreich vorgehen? Im Laufe der Jahre gewann er so manches Verfahren.

Als ihm eines Tages der Gefängnisarzt das Ritalin-Medikament radikal absetzte, klagte er sich durch mehrere Instanzen, bis er beim Oberlandesgericht Karlsruhe einen durchschlagenden Erfolg erzielte. Zunächst war Shorty dabei ertappt worden, die Tablette nicht etwa geschluckt, sondern in seiner Hand versteckt zu haben, um sie aus dem Sanitätszimmer zu schmuggeln. Alle seine Erklärungsversuche halfen nichts. Auch nicht der Umstand, dass das ADHS-Medikament den Hunger dämpfe, er nach Einnahme unter Appetitlosigkeit leide, deshalb schon erheblich abgenommen habe und er das Medikament deshalb erst nach dem Essen nehmen wolle. Das von ihm eingeschaltete Landgericht ließ sich noch nicht überzeugen. Es meinte lapidar, medizinische Fragen seien gerichtlich kaum nachprüfbar. Deshalb zog Shorty vor die nächste Instanz. Weil hinter Gittern kaum etwas schnell geht, dauerte es rund ein Jahr vom Entzug des Medikaments, bis sich dann nach dem Urteil des OLG letztlich auch der Anstaltsarzt beugte und Shorty wieder das Medikament verordnete.

Mittlerweile wurde Shorty in ein anderes Bundesland verlegt, so soll ihm ein Neuanfang ermöglicht werden. Noch einmal von vorn beginnen. Nach über 20 Jahren im baden-württembergischem Strafvollzugssystem möchte er in Nordrhein-Westfalen versuchen, seinem Leben eine positive Wendung zu geben.

Schuldig geworden an anderen und ihre von der Gesellschaft durch die Gerichte zugedachte Strafe abgesessen, leben die Sicherungsverwahrten dennoch weiter in den Gefängnissen. Eine Freilassung erfolgt erst dann, wenn meist mehrere psychiatrische Sachverständige und auch die Gerichte zu der Einschätzung gelangen, weitere schwere Straftaten seien künftig nicht mehr zu erwarten. In vielen Fällen dauert die Unterbringung jedoch bis zum Tod, weshalb neben Insass*innen auch kritische Kriminolog*innen und Jurist*innen die Sicherungsverwahrung letztlich als eine Art von Todesstrafe bezeichnen. Selbst das Bundesverfassungsgericht sprach in seinem Urteil zur Sicherungsverwahrung 2004 von »hoffnungslos Verwahrten«, die bis zu ihrem Lebensende nicht freigelassen würden. Dabei können sich die Betroffenen auch auf Papst Franziskus berufen, der vor einigen Monaten die lebenslange Freiheitsstrafe als eine »versteckte Todesstrafe« (Enzyklika »Fratelli tutti«, Randnr. 268) bezeichnete. Und was ist – zumindest aus Sicht der Einsitzenden – die Sicherungsverwahrung letztlich anderes?

Thomas Meyer-Falk sitzt seit 2013 in der JVA Freiburg in Sicherungsverwahrung. Er hat in dieser Zeit etwa 60 Sicherungsverwahrte kennengelernt.

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