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- Generationenbeziehungen
Großeltern in der Pflicht
Generationenbeziehungen sind vom sogenannten Reziprozitätsprinzip geprägt. Das bedeutet Care-Arbeit, meist von Frauen geleistet
Alljährlich wird die Stadtgesellschaft von Freiburg, wo ich seit 2015 lebe, dazu aufgerufen, Vorschläge für den nächsten kommunalen Finanzhaushalt einzubringen. Eine Freiburgerin begründet ihr Anliegen für 2023/24 so: »Letztlich muss man sich am besten mit der Zeugung des Kindes auf die Warteliste der Stadt für einen Kita-Platz schreiben, und mit Geburt meldet man sich beim Kindergarten an. […] Auch sind in den Kitas viele Stellen unbesetzt, die Leute überarbeitet und es helfen dauerhaft FSJ-ler*innen bei der Betreuung aus, übernehmen also Aufgaben, die eigentlich ausgebildetes Fachpersonal machen sollte. Das muss sich ändern.« Im Grundschulalter wird es noch schwieriger. Erst ab 2029 wird der Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder realisiert sein. Sicher ist das allerdings auch nicht.
Folglich ist es kein Wunder, dass Großeltern als »Back-up-System« der Kinderbetreuung in Freiburg, wie an vielen Orten der Republik, nach wie vor unverzichtbar sind.
Unwillkürlich denke ich an das Jahr 1974 zurück, in dem ich als Studentin in Ostberlin meinen Sohn zur Welt gebracht habe. Die vier berufstätigen Großeltern waren entzückt, einen Enkel zu haben, wohnten allerdings in Sachsen bzw. Thüringen, so dass ich auf sie als Betreuungspersonen im Alltag nicht zählen konnte. Allerdings gab es keinen Grund, das Studium zu unterbrechen. Denn selbstverständlich bekam ich einen bezahlbaren Krippenplatz mit gut ausgebildetem Personal. Ich finde auch nicht, dass diese frühkindliche Betreuung meinem Sohn geschadet hat. Solche Ängste wurden allerdings in Westdeutschland geschürt: Dort starteten im gleichen Jahr, als mein Kind geboren wurde, diverse Tagesmutter-Modellversuche, weil befürchtet wurde, durch den frühen Entzug von der Mutter käme es zum »Deprivationssyndrom«. Es wurde nicht einmal davor zurückgeschreckt, sogar von »Versuchen an Menschen« zu schwadronieren (»Spiegel« vom 31.3.1974). Abgesehen von dieser Mütterideologie werden Tagesmütter bis heute deutlich schlechter bezahlt als ausgebildete Erzieher*innen. Was das für ihre Rente bedeutet, liegt auf der Hand.
Einer aktuellen Studie zufolge übernehmen vor allem Großmütter bundesweit im Durchschnitt circa 8 Stunden pro Woche die Betreuung ihrer Enkel, damit ihre Töchter bzw. Schwiegertöchter ihr Studium abschließen oder ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen können. Insgesamt wenden die 21 Millionen Großeltern in Deutschland jährlich fast 4 Milliarden Stunden Betreuungszeit für ihre Enkelkinder auf.
Das funktioniert allerdings nur dort, wo Großmütter und Großväter in der Nähe wohnen. Das ist zwar relativ häufig der Fall, aber keineswegs die Regel: Fast die Hälfte der Erwachsenen mit eigenen Kindern (47 Prozent) lebt z. B. in Baden-Württemberg maximal zehn Minuten von den Eltern oder Schwiegereltern entfernt. Bei einer Wohnentfernung von über einer Stunde (ca. 30 Prozent) ist dieses Betreuungssetting schlicht nicht praktikabel. Auch das spaltet angesichts des Mangels an Kita- und Ganztagsplätzen mit ausreichenden Öffnungszeiten unsere Gesellschaft in diejenigen, die dann immerhin auf Oma und Opa zählen können, und diejenigen, die leer ausgehen. Es ist ähnlich wie mit den finanziellen Transfers zwischen den Generationen: Die einen können ihre Kinder und Enkelkinder mit Geld unterstützen, die anderen können es nicht.
Der tägliche Umgang mit den Enkelkindern wird von Seiten der Großeltern sehr positiv gesehen. Vor allem von Großvätern ist häufig zu hören, dass sie bei ihren Enkeln nachholen, was sie bei ihren Kindern früher versäumt hätten. Auch für den Nachwuchs erweist sich eine enge Beziehung zu den Großeltern als eine Art Kapital fürs Leben: Auf diese Weise entsteht im alltäglichen Miteinander Vertrauen und Bindungssicherheit. Mütter und Väter wiederum sind unendlich dankbar für den großelterlichen Einsatz. So kann Stress im Alltag zumindest abgemildert werden, was das Familienleben erheblich erleichtert. Großeltern betonen, dass die Beziehung zu den eigenen Kindern durch das Kümmern um die Enkel (wieder) intensiver geworden sei.
Bemerkenswert ist, dass relativ selten über die Schattenseiten solcher privaten Betreuungsarrangements zwischen den Generationen gesprochen wird. Aspekte der körperlichen und mentalen Beanspruchung bzw. die fragwürdige gesellschaftsweite Einstellung und Praxis, defizitäre Angebote der Kinderbetreuung auf diesem Wege kostengünstig zu überbrücken, werden jedenfalls kaum thematisiert. Vor allem fällt auf, dass hier ganz selbstverständlich auf die Care-Ressourcen älterer Frauen zurückgegriffen wird, die in ihrem bisherigen Lebensverlauf in aller Regel bereits erhebliche Volumina an unbezahlter Sorgearbeit geleistet haben: Zunächst ziehen sie als Mütter ihre Kinder groß, übernehmen möglicherweise schon parallel dazu die Pflege des demenzerkrankten Schwiegervaters. Und nun die Betreuung der Enkelkinder.
82 Prozent der Frauen im Alter zwischen 40 und 59 Jahren – die sogenannte »Sandwich-Generation« – kennen jedenfalls das Gefühl der Überforderung und ebenso viele das von Zeitnot, insbesondere, wenn neben der Angehörigenpflege noch Kinder zu versorgen sind (Allensbach 2015). Ihre eigenen Interessen bleiben oft auf der Strecke, was mit erheblichen mentalen und körperlichen Belastungen verbunden sein kann – vor allem dann, wenn sie den Mangel an guter Kinderbetreuung über längere Zeiträume kompensieren müssen und die Angehörigenpflege primär von ihnen geschultert wird (»Singularisierung von Pflege«).
Generationenbeziehungen sind vom sogenannten Reziprozitätsprinzip geprägt. Reziprozität meint, es wird – wenn auch nicht unmittelbar – eine wie auch immer geartete Gegenleistung von der anderen Generation erwartet. So geraten vor allem Töchter und Schwiegertöchter, die Unterstützung bei der Kinderbetreuung erfahren haben, bei einer späteren Pflegebedürftigkeit ihrer Eltern oder Schwiegereltern wiederum in die Pflicht, nun ihrerseits Care-Arbeit zu übernehmen.
Eine aktuelle Studie der Universität Bielefeld ergab, dass Frauen von ihren Familien oft sogar erheblich unter Druck gesetzt werden, die Pflege zu übernehmen. Dahinter steht meist die Angst der alten Eltern, »abgeschoben« zu werden, so dass sie ihre Töchter zur Pflege verpflichten. Das macht es wiederum den Söhnen leicht, sich zu entziehen. Bestärkt werden solche Entscheidungen durch bereits vergeschlechtlichte Lebensläufe: Frauen arbeiten nach Erwerbsunterbrechungen wegen der Kinder häufig in Teilzeit, haben einen Minijob oder sind bei einer Zeitarbeitsfirma angestellt. Dann wird vonseiten der Familie schnell argumentiert, dass es doch vernünftig sei, wenn diese Tochter die Pflege übernimmt. Ein weiterer Grund ist die Ehevormundschaft. Der pflegebedürftige Ehemann bestimmt, dass seine Frau ihn pflegt und auch zu welchen Bedingungen, nach dem Motto: Wir brauchen keinen Pflegedienst, meine Frau macht das allein (angehoerige-pflegen.de).
Es sind diese pfadabhängigen Entscheidungen im Familienzyklus, die in der Konsequenz dazu führen, dass heute 35-jährige Mütter mit mindestens einem Kind in Westdeutschland lediglich mit einem Lebenserwerbseinkommen rechnen können, das 62 Prozent (!) unter dem der Väter dieser Altersgruppe liegen wird. In Ostdeutschland beträgt diese Lücke inzwischen immerhin auch 48 Prozent. Ausgleichszahlungen für Kindererziehung oder Pflegezeiten reduzieren diese Lücke lediglich um gerade einmal 7 Prozentpunkte.
Weiter auf den privaten Generationenvertrag, d. h. auf das kostengünstige Großmütter- oder Töchterpflegepotenzial zu setzen, führt jedoch unweigerlich in eine Sackgasse. Die demografisch bedingte riesige Fachkräftelücke wird ebenso wie das zunehmende Bewusstsein von Frauen, für die Erwirtschaftung des eigenen Lebensunterhalts und die Alterssicherung selbst zuständig zu sein, zu ihrer intensiveren Einbindung in den Arbeitsmarkt führen. Gleichzeitig dürfte damit die Bereitschaft zurückgehen, sich über längere, zum Teil nicht planbare Zeiträume in die Enkelbetreuung einbinden zu lassen oder in die Position einer pflegenden Angehörigen zu begeben. Der zügige Ausbau einer qualitativ guten und verlässlichen Care-Infrastruktur mit vielfältigen und kreativen Sorge-Settings von der Wiege bis zur Bahre steht also ebenso dringend an wie die bessere Anerkennung privat geleisteter Care-Arbeit. Eine Neuausrichtung gesellschaftlicher Sorgezuständigkeiten in diesem Sinne räumt allen Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht und je nach Lebenssituation, das Recht ein, Care-Arbeit zu übernehmen, aber auch, es nicht zu tun. Davon sind wir allerdings meilenweit entfernt.
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