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Verhandlungen im Geheimen
Ukraine: Es gibt Anzeichen, dass der Kriegswinter zu politischem Tauwetter führen könnte
Ende vergangener Woche hatte das russische Verteidigungsministerium verkündet, dass sich seine Truppen vollständig aus Cherson ans andere Ufer des Dnipro zurückgezogen haben. Am Montag kam der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in die Gebietshauptstadt, um ihre vollständige Befreiung zu verkünden.
Auch wenn man propagandistische Überhöhung beiseite lässt: Cherson, in dem noch rund 70 000 von einst 290 000 Menschen leben, könnte tatsächlich zu einem Wendepunkt werden. Militärisch, weil ein russischer Angriff auf die Schwarzmeer-Küste Richtung Odessa unwahrscheinlich geworden ist. Bedeutsamer ist der politische Aspekt: Zum ersten Mal seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar könnte ernsthaft über einen Waffenstillstand verhandelt werden.
Der ukrainische Präsident, der vor das Rathaus der Stadt gekommen war, sagte: »Wir sind bereit für den Frieden.« Zumeist übergangen werden in der Berichterstattung Aussagen von ihm wie diese: »Wir respektieren das Völkerrecht und die Souveränität jedes Staates.« Und: »Wir interessieren uns nicht für das Territorium anderer Länder.« Aus dem Pentagon in Washington kam tags darauf die Aussage eines hohen Beamten, man sehe aktuell keinerlei Anzeichen für eine Operation, »mit der die Ukrainer … den Fluss überqueren« wollten.
Genau zuhören musste man auch bei Selenskyjs Videoansprache am Dienstag auf dem G20-Gipfel. Er forderte zwar einerseits den vollständigen Rückzug Russlands sowie Entschädigungsleistungen. Zugleich betonte er: »Ich möchte, dass dieser aggressive russische Krieg gerecht endet und auf Grundlage der Charta der Vereinten Nationen und des internationalen Rechts.« Und er sprach über die Notwendigkeit einer internationalen Konferenz zur Schaffung einer Nachkriegsarchitektur mit Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Dies lässt sich als Vorschlag für einen Einstieg in einen Verhandlungsprozess deuten. Derzeit ist der einzig gewaltlose »Draht«, der Kiew mit Moskau verbindet, der Austausch von Gefangenen.
Indes hatte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, zuletzt am 2. November klargestellt, man erwarte aus Kiew eine Initiative, um den Verhandlungsprozess wieder aufzunehmen – unter »Berücksichtigung« der neuen territorialen Realitäten. Einem solchen »Minsk 3«-Prozess erteilte Selenskyj aber eine eindeutige Abfuhr, indem er am 10. November eine Entscheidung des ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungsrates über die Unmöglichkeit von Verhandlungen mit der russischen Seite in Kraft setzte. Er erwähnte nebenbei aber, dass er, anders als Moskau behauptet, nie die Tür zu Gesprächen geschlossen habe.
Eine offene Annäherung ist indes für Moskau schwierig. Denn bereits der Rückzug aus Cherson hat zu wütenden Reaktionen von durchaus maßgeblichen Politikern, Militärs und Geheimdienstleuten geführt. Dass Präsident Wladimir Putin nicht selbst zum G20-Gipfel gereist ist, könnte durchaus auch mit der Furcht vor inneren Verwerfungen zu tun haben. Eine »falsche« Meldung reicht, um Putins Position weiter zu schwächen.
Dass deshalb sechs ausländischen Korrespondenten in Cherson die Akkreditierung entzogen wurde, darunter jene der US-Fernsehsender CNN und Sky News, scheint damit zu tun zu haben, dass man sich in Kiew um das eigene Bild als Repräsentant westlicher Werte sorgt. Die Journalisten hatten sich, offenbar nicht »eingebettet«, in Cherson umgesehen. Die Nachrichtenagentur AP veröffentlichte ein Foto von mutmaßlichen russischen Kollaborateuren, die am Sonntag mit Kabelbindern an den Pranger gebunden und von Nachbarn beschimpft wurden. Am Folgetag war das Bild bei AP nicht mehr abrufbar.
Bekannt ist, dass die Verteidigungsminister der USA und Russlands im vergangenen Monat mehrmals miteinander telefonierten. In der vergangenen Woche feuerten die russischen Truppen nach Angaben des Sprechers der ukrainischen Luftwaffe, Yuri Ignat, weder Iskander-Raketen noch Kalibr- oder andere Marschflugkörper ab. Auch Attacken auf die ukrainische Infrastruktur mit iranischen Shahed-136-Drohnen blieben aus. Ignat schloss daraus, der Feind habe offenbar »einen Mangel an diesen Waffen«. Im US-Verteidigungsministerium hingegen bestätigte man dies, anders als das Ausbleiben der Bombardements, nicht. Möglicherweise war es also auch ein Ergebnis der Gespräche zwischen Moskau und dem Pentagon.
Noch scheint es in Washington – und damit auch bei der Nato – keine einheitliche Position zum Fortgang des Krieges zu geben. Während manche weiter auf einen vollständigen Sieg der Ukraine setzen, sagte die ständige Vertreterin der USA bei der Nato, Julianne Smith, ihre Regierung hoffe, dass man »in Zukunft« Verhandlungen aufnehmen könne. Diese »Zukunft« definierte der Chef des Komitees der Stabschefs der US-Streitkräfte, General Mark Milley, deutlicher. Der bevorstehende Winter eröffne eine Gelegenheit für Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine – auch weil Kiew den Sieg nicht mit militärischen Mitteln erreichen könne.
Ein weiteres Indiz dafür, dass Verhandlungen vorbereitet werden: In der türkischen Hauptstadt Ankara traf William Burns, Direktor des US-Auslandsgeheimdienstes CIA und ehemaliger US-Botschafter in Russland, den Chef des russischen Auslandsspionagedienstes SVR, Sergei Naryshkin. Burns habe dabei eine Botschaft über Folgen eines – von Moskau immer wieder angedrohten – Atomwaffeneinsatzes übermittelt. Mutmaßlich vermittelte Burns Naryshkin auch, dass Moskau und Washington die ukrainische Frage nicht untereinander klären können, sondern nur mit der Kiewer Regierung zusammen. Auch US-Präsident Joe Biden unterstrich auf Bali, Washington werde ohne die Teilnahme Kiews nicht über die Ukraine verhandeln.
Kurz zuvor hatte John Kirby, Kommunikationsdirektor des US-Sicherheitsrates, betont, der ukrainische Präsident entscheide, »ob und wann er den Gesprächen zustimmt«. Klar sei aber: Um sich an einen Tisch zu setzen, dürfe es »keine Vorbedingungen« geben.
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