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Die Hoffenden im Durchgangslager
Eine Ukrainerin und eine Russin haben sich in einer Asylunterkunft kennengelernt. Beide sind zum Warten verdammt
Zwischen Äckern, einem Sportplatz und Häusern mit gepflegten Vorgärten liegt am Stadtrand von Bramsche ein Ankunftszentrum für Geflüchtete. Hinter hohen Zäunen des ehemaligen Willem-Versteegh-Camps, einer von den Niederländern in den 60er Jahren erbauten Nato-Kaserne, sind heute Menschen untergebracht, die vor Krieg, Elend und Verfolgung geflüchtet sind. Seit mehreren Monaten wohnen Olena Kushnir und Marina Chugaeva hier im Ortsteil Hesepe, etwa 20 Kilometer nördlich von Osnabrück. Die beiden Frauen haben sich im Lager angefreundet. Beide sprechen Russisch. Dabei kommt Kushnir aus der Ukraine und Chugaeva aus Russland. Warum beide in der niedersächsischen Provinz gelandet seien, habe ganz unterschiedliche Gründe, erzählen sie bei einem Kaffee in Bramsche.
Olena Kushnir hatte bereits vor Jahren die Ukraine verlassen, mit der Hoffnung, in Europa ein besseres Leben führen zu können. Sie lebte in den Niederlanden, wurde abgeschoben und machte sich wieder auf den Weg. Die 52-Jährige spricht Deutsch, Englisch, Niederländisch, Ukrainisch und Russisch. Außerdem kann sie sich rudimentär auf Arabisch, Paschtu und Bosnisch verständigen. Die Gedanken und Beobachtungen sprudeln nur so aus ihr heraus. Mehrere Jahre steckte sie im Norden Bosnien-Herzegowinas, in Bihác, fest. Dort lebte sie mit Geflüchteten aus verschiedenen Ländern in verlassenen Gebäuden, weil man ihr in der EU keinen Aufenthalt gestatten wollte. Mit der russischen Invasion in die Ukraine veränderte sich ihr Status. Zuvor hatte sie aus wirtschaftlichen Gründen keine Zukunft in ihrem Heimatort im Osten der Ukraine. Nun verhindert auch der Krieg eine Rückkehr. Gemeinsam mit einem afghanischen Freund, den sie in Bihác kennengelernt hatte, schaffte sie es im Juli nach Deutschland, um hier Asyl zu beantragen.
Marina Chugaeva ist dagegen eher ruhig und zurückhaltend. Sie ist 60 Jahre alt und lebte bis Anfang April in St. Petersburg. Als Russland am 24. Februar in die Ukraine einmarschierte, war die pensionierte Lehrerin entsetzt. »Ich drückte meinen Protest auf einem Stück Stoff aus und befestigte es an meinem Rucksack.« Sie zeigt auf ihrem Handy ein Foto. Damit habe sie sich an Demonstrationen beteiligt. Schließlich wurde sie festgenommen und unter Arrest gestellt. Dort fasste sie den Entschluss, das Land zu verlassen. Denn bei einer erneuten Festnahme droht ihr jahrelange Haft.
Chugaeva hatte noch ein finnisches Visum. Da aber Finnland im März seine Grenze geschlossen hatte, verließ sie Anfang April Russland über Estland. Im Fernsehen habe sie eine Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz gesehen, der gesagt habe, er wisse von den mutigen Menschen, die in Russland protestierten. »Deshalb habe ich mich entschieden, nach Deutschland zu fliehen«, sagt die 60-Jährige. Außerdem lebe eine ihrer ehemaligen Schülerinnen, die ihr dabei helfen wolle, Arbeit und Unterbringung zu finden, im niedersächsischen Meppen.
Als die beiden Frauen nach Bramsche kamen, waren sie überrascht, in welchen Zuständen sie untergebracht wurden. Kushnir schläft in einer großen Halle. Bilder zeigen mehr als 20 Stockbetten, die aneinandergereiht in einem Raum stehen. Die Einrichtung ist funktional und rudimentär. Abtrennungen für die Privatsphäre gibt es nicht. Als einmal Menschen Bettlaken aufgehängt hätten, um sich eigene kleine Bereiche zu schaffen, erzählt Kushnir, hätten die Sicherheitsleute diese wieder abgerissen und gesagt, der Chef habe das angeordnet.
Das ständige Warten belastet die beiden Frauen. »Jeden Tag stehen alle Leute stundenlang in unterschiedlichen Schlangen«, sagt Kushnir. Es beginne morgens mit dem Corona-Test. Denn egal welche Termine man wahrnehmen wolle – Registrierung, Geldausgabe oder ein Arztbesuch –, immer brauche man einen negativen Test. »Ich kenne Leute, die zwischen vier und fünf Uhr morgens aufstehen, um sich anzustellen«, erzählt sie. »Wir müssen uns wie Fische in der Büchse drängeln, weil der Zaun für die Schlange so eng ist.« Das zeigen auch Bilder, die Kushnir mit ihrem Handy aufgenommen hat. An einem Montagmittag im Oktober steht eine Traube von etwa 70 Menschen um den kleinen Testcontainer vor dem Tor der alten Kaserne. Vertrauen in das Testergebnis hat die Russin nicht. Einmal habe sie schon eine Minute, nachdem sie den Test gemacht habe, die Antwort bekommen. »Wäre der Test positiv, wüsste niemand davon«, ist sie sich sicher.
Nach der Testschlange gehe es bei der Geldausgabe weiter, erzählt die Ukrainerin. Diese sei täglich nur drei Stunden geöffnet, und wenn man nicht drankomme, werde man einfach weggeschickt. Am längsten stehe sie aber bei der Essensausgabe an. Die Schlange gehe manchmal am Abend um das Gebäude herum. Kürzlich seien Zäune aufgestellt worden, um die Menschenmenge zu lenken, erklärt Kushnir. Auch das zeigen ihre Handyfotos. Die Landesaufnahmebehörde scheint das Anstehen lediglich regeln zu wollen, statt es zu beseitigen. Immer wieder kommt es beim stundenlangen Warten zu Konflikten – auch mit dem Sicherheitsdienst. Ein Mitarbeiter habe einmal auf Russisch die aneinander gedrängten Leute als Schafe bezeichnet, erzählt Kushnir. Beschimpfungen seien durchaus üblich, meinen beide.
Die Landesaufnahmebehörde bestätigt, dass die Situation angespannt sei. Anfang November seien 1972 Personen im Ankunftszentrum Bramsche untergebracht gewesen, erklärt sie auf Nachfrage. Die reguläre Kapazität betrage jedoch lediglich 1020 Plätze. Wegen des anhaltenden Zugangs von Vertriebenen aus der Ukraine und erhöhter Zugänge von geflüchteten Menschen aus anderen Staaten gebe es an allen Standorten der Behörde Platzmangel. Mittlerweile sind auf dem Camp-Gelände Zelte als Übergangslösung aufgestellt worden. Kushnir berichtet, dass auch die Räume, die momentan als Schule genutzt würden, in Schlafplätze umgewandelt würden.
»Die Situation ist tatsächlich schwierig«, sagt Kai Weber, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Niedersachsen. »Aber das Land bemüht sich intensiv um weitere Unterkünfte.« Dafür fordern die Kommunen aktuell mehr Zeit. »Wenn wir uns vor Augen führen, dass wir in einem halben Jahr mehr als eine Millionen Menschen aufgenommen haben, kann man erst mal sagen, dass es bisher verblüffend wenige Probleme gab«, meint Weber. Die Situation sei nicht zu vergleichen mit der im Jahr 2015/16. Konkrete Missstände mit Sicherheitskräften, fehlender Privatsphäre und übermäßig lange Schlangen gelte es jedoch zu beheben. Er ist zuversichtlich, dass die Kritik in Bramsche angenommen wird. Immer wieder habe man allerdings das Aufnahmekonzept kritisiert, das Gruppen von Geflüchteten unterschiedlich behandle, so Weber.
Eigentlich müssen Ukrainier*innen – im Gegensatz zu anderen Geflüchteten – nach einer Gesetzesänderung nur etwa eine Woche in der Erstaufnahme bleiben. Kushnir wohnt nur noch in Bramsche, weil sie ihren afghanischen Freund, mit dem sie über die Balkanroute nach Deutschland kam, nicht alleine in der Unterkunft lassen will. Denn für ihn gilt nicht das verkürzte Verfahren, mit dem neu ankommende Ukrainer*innen schnell auf dezentrale, kommunale Unterbringungen verteilt werden. Kushnir versteht das nicht und will nicht anders behandelt werden. Auch für Menschen, die aus Russland fliehen, gilt so ein verkürztes Verfahren nicht.
Chugaeva saß insgesamt mehr als ein halbes Jahr in Bramsche fest. Es habe eineinhalb Monate gedauert, bis sie einen Termin zum Vorsprechen bekommen habe, erzählt sie. Ihre Dokumente und Arrestprotokolle hätten erst übersetzt werden müssen. Natürlich hat die Russin darauf gehofft, in Deutschland bleiben zu können, aber die Asylbehörde teilte ihr mit, dass man wegen des finnischen Visums gemäß der Dublin-Regelung hier nichts für sie tun könne. Die EU-Vereinbarung sieht vor, dass eine Person dort einen Asylantrag stellen muss, wo sie die EU erstmals betreten hat.
Obwohl Chugaeva eigentlich eine Woche Zeit für einen Einspruch gegen den Bescheid gehabt hätte, habe man ihr unmittelbar, nachdem sie das Antwortschreiben erhalten habe, gesagt, sie solle ihre Sachen packen und gehen. Erst über andere Geflüchtete erfuhr sie von Anwält*innen, die sie kostenfrei unterstützen können, und legte Widerspruch ein. Er wurde jedoch abgelehnt. Seitdem wartet sie auf die Abreise nach Finnland.
Seit Monaten kommt Chugaeva mit dem absoluten Minimum aus. Einmalig habe sie 147 Euro erhalten, sagt sie. Danach habe man ihr gesagt, Finnland sei für sie zuständig. Aufgrund der Sanktionen gegen Russland kann sie auch nicht auf ihr eigenes Konto zugreifen. Im August habe man ihr dann mitgeteilt, dass Finnland sie aufnehmen werde – aber nicht, wann das sein wird. Also ging das qualvolle Warten weiter. »Wenn ich sofort nach Finnland geschickt worden wäre, hätte ich dort bereits mit dem Asylverfahren begonnen, und Deutschland hätte drei Monate weniger Geld für meinen Unterhalt ausgeben müssen«, beschwert sich die Russin. »In den verlorenen Monaten habe ich viele Tränen vergossen.« Jeden Tag sei sie bei den Sachbearbeiter*innen gewesen, aber niemand habe ihr geholfen. »Die Beamten sind dem Schmerz anderer gegenüber gleichgültig«, schließt sie. Ihr läuft eine Träne über die Wange, als sie über diese Zeit spricht. Kurz sei sie dann in einen Hungerstreik getreten. Erst dann habe man ihr ein Datum genannt, wann sie nach Finnland reisen werde.
Am Abend nach dem Gespräch geht es für sie los. Sie lässt das überfüllte Lager in Bramsche hinter sich. In Finnland angekommen, schreibt sie, die Situation sei viel besser. Das Essen und die Unterbringung seien deutlich besser als in Niedersachsen. Kushnir lebt weiter in dem Lager und hofft, dass sie und ihr afghanischer Freund bald Asyl erhalten und ebenfalls Bramsche hinter sich lassen können.
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