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Falscher Alarm
Nato-Staaten reagieren betont vorsichtig auf Raketeneinschlag in Polen. Kiew spricht von »russischer Spur«
Die Meldungen, die am Dienstagabend verbreitet wurden, waren alarmierend. Zwei Raketen hätten im polnischen Przewodów einen Bauernhof getroffen. Bilder in sozialen Medien zeigen einen Krater, einen umgestürzten Anhänger sowie Metallteile, die vom polnischen Militär geborgen wurden.
Das Dorf liegt nur wenige Kilometer von der polnisch-ukrainischen Grenze entfernt. Durch die Region fließt seit dem Überfall Russlands Ende Februar ununterbrochen westlicher Nachschub für die Verteidiger im Osten der Ukraine. Das erklärt die Wucht bisheriger russischer Raketenangriffe auf die nahe Gebietshauptstadt Lwiw.
Relativ rasch zitierte die Agentur AP einen anonym bleibenden US-Geheimdienstmitarbeiter, der behauptete, die Raketen seien aus Russland gekommen. Das sorgte für zusätzliche Unruhe, denn: Polen ist nicht nur ein wesentlicher Lieferant von Militärgütern an die Ukraine, sondern auch Nato-Mitglied. Laut Artikel 5 des Bündnisvertrages betrachten die Nato-Staaten einen bewaffneten Angriff gegen einen oder mehrere Partner als Angriff gegen alle. Daraus ergibt sich die Verpflichtung, Beistand zu leisten.
Polens Premierminister Mateusz Morawiecki berief eine Dringlichkeitssitzung von Sicherheitsexperten ein, das polnische Militär erhöhte in Teilen die Bereitschaftsstufe. Präsident Andrzej Duda sprach mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und erklärte: »Wir wissen, dass es praktisch den ganzen Tag über einen russischen Raketenangriff auf die Ukraine gegeben hat. Aber wir haben derzeit keine eindeutigen Beweise dafür, wer die Rakete abgefeuert hat. Die Ermittlungen laufen.« Am Mittwoch überreichte Polens Außenminister dem russischen Botschafter eine scharf gehaltene Note. Zu gleicher Zeit leitete das polnische Staatsoberhaupt eine Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates. In Brüssel besprachen sich die Nato-Botschafter. Niemand konnte Hinweise für einen vorsätzlichen russischen Angriff auf Polen entdecken.
Im fernen Indonesien hatten sich zuvor die Staats- und Regierungschefs der USA, Großbritanniens, Deutschlands, Frankreichs, Italiens, der Niederlande, Spaniens, Kanadas und Japans am Rande des G20-Gipfels getroffen und die Raketenangriffe auf ukrainische Städte verurteilt; die EU-Kommission schloss sich an. Dann meldete sich überraschend US-Präsident Joe Biden. Er vertrieb sekundenschnell alle Überlegungen in Richtung Artikel 5: »Wir haben vorläufige Informationen, die der Ansicht widersprechen, dass eine Rakete, die auf polnisches Territorium gefallen ist, von Russland aus gestartet wurde.« Parallel dazu hieß es aus dem US-Außenamt, die Situation sei »unglaublich besorgniserregend«, doch man unternehme alles, um sie »nicht zu eskalieren«.
Auch in Moskau bemühte man sich um Deeskalation und bestritt jede Schuld. Man lobte die zurückhaltende Reaktion der USA und zeigte sich offen für eine Verlängerung des auslaufenden Abkommens über Getreideexporte aus der Ukraine.
Wer aber ist verantwortlich für den Raketentreffer in Polen? Es habe sich, so sagt Moskau, um eine S-300-Rakete der ukrainischen Luftabwehr gehandelt. Diese Version teilten zeitgleich US- und polnische Experten. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dagegen blieb dabei: Es handle sich um eine russische Rakete und eine »sehr signifikante Eskalation«. Präsidentenberater Mychajlo Podoljak erkannte sogar einen vorsätzlichen Angriff Russlands auf Polen. Und der Chef des Sicherheitsrates Oleksjj Danilow wollte den westlichen Partnern Beweise einer »russischen Spur« zu übergeben. Träfe das zu, wären Maßnahmen nach Nato-Artikel 5 in greifbare Nähe gerückt und das Bündnis – auf Seiten der Ukraine – möglicherweise direkte Kriegspartei gegen Russland.
Viele Fragen stehen im Raum: Wie kommt es, dass eine ukrainische Flugabwehrrakete, die die aus dem Osten anfliegenden russischen Raketen weit vor deren Ziel abfangen soll, in einem westlich gelegenen polnischen Dorf einschlägt? Normalerweise zerlegen sich solche Abwehrraketen in der Luft – auch wenn sie ihr Ziel nicht treffen. Das geschah in diesem Fall nicht. Es gibt solche Versager: 2017 wurde eine in Syrien gegen angreifende Flugzeuge eingesetzte S-200, die ihr Ziel verfehlte und eine ballistische Flugbahn einnahm, vom israelischen Luftverteidigungssystem abgeschossen. Die Trümmer landeten unweit der Atomanlage Dimona. Auch im türkischen Teil der Insel Zypern gingen Reste einer fehlgeleiteten syrischen Abwehrrakete nieder.
Beim Langstrecken-Boden-Luft-System S-300 gibt es, so bestätigen unter anderem belarussische Militärs, eine Besonderheit. Die Raketen können – was Russland bereits bei einer Übung 2011 und 2022 beim Kriegseinsatz in der Ostukraine bewies – auch auf Bodenziele gelenkt werden. Die Reichweite beträgt dabei 120 Kilometer. Ein solcher Einsatz ist wirtschaftlich ineffektiv – aber politisch vielleicht ein Risiko wert.
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