Der alte Mann und das Mehr

Joe Biden wird 80 und steht vor neuen Herausforderungen – eine davon ist er selbst

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 6 Min.
Flammende Reden sind seine Stärke nicht: Joe Biden, Präsident der Vereinigten Staaten
Flammende Reden sind seine Stärke nicht: Joe Biden, Präsident der Vereinigten Staaten

​Amerikas Zwischenwahl ist für die Demokraten des amtierenden Präsidenten erfreulicher, für die Republikaner von Ex-Präsident Donald Trump enttäuschender ausgegangen als erwartet. Nach der Wahl und vor seinem 80. Geburtstag am Sonntag wird sich Joe Biden, in den USA nun erster »Octogenarian« im Amt, trotzdem fragen: Gibt es künftig noch mehr Spaltung im Land als ohnehin? Gar noch mehr Krieg in Europa? Wieder mehr Trump? Und sich selbst: auch mehr Biden?

Die US-Halbzeitwahl geht traditionell für die Partei gut aus, die gerade nicht den Präsidenten stellt. Sie ist eine Ausgleichswahl: Die Wähler stärken die Opposition, damit der Präsident nicht übermütig wird. So erhielten bisher fast alle Präsidenten der Neuzeit bei ihren ersten Midterms Denkzettel: Carters Demokraten verloren 15 Sitze im Repräsentantenhaus, Reagans Republikaner 26, Clintons Demokraten 54, bei Obama 2010 war der Rückschlag mit 63 noch heftiger. 2018, unter Trump, gingen 42 verloren. Seitdem bescherte er den Republikanern zwei weitere nationale Niederlagen. Und Biden? Seine Partei hielt den Senat, büßte aber knapp die Mehrheit im Abgeordnetenhaus ein.

Nachdem Trump nun erklärte, in zwei Jahren für eine zweite Amtszeit zu kandidieren, gerät Biden gleichfalls in Versuchung, für weitere Jahre anzutreten. Dies umso mehr, als er es war, der Trump schon einmal besiegte. Aber auch, weil bisher keine zwingende Alternative bereitsteht, am wenigsten seine Vizepräsidentin Kamala Harris. Deren Umfragewerte sind so schwach wie die Bidens.

Das bedeutendste Ergebnis der Midterms ist die Abfuhr für Trump. Nicht nur holten die Republikaner keinen Erdrutschsieg, viele geben – erstmals offen – Trump und seinen oft völlig inkompetenten Kandidaten die Schuld. Die Abgeordnete Marjorie Taylor Greene, Trump-Verehrerin, brachte es mit ihrer Behauptung, von jüdischen Bankiers im Weltall finanzierte Laserstrahlen seien für Kaliforniens Waldbrände verantwortlich, nicht nur zu Bekanntheit, sie wurde auch wiedergewählt. Sie ist nur ein Gesicht der fortdauernden politischen Spaltung im Land. Ob der Dämpfer für Trump die Abnabelung der Republikaner von ihm einleitet, bleibt abzuwarten. Sollten sie ihn abweisen, um nicht auch die nächste Präsidentschaftswahl mit ihm zu verlieren, würde dies sicher Folgen für Bidens Zukunft haben. Schicken sie Trump in die Wüste, dürfte auch Biden in den Sonnenuntergang reiten.

Die Bilanz seiner ersten zwei Amtsjahre ist passabel. Er erreichte manches von dem, was er versprach. Doch in dem Maße, in dem die Inflation stieg und Varianten des Coronavirus das Land peinigten, fielen seine Werte. Dabei hatte sich die Wirtschaft in seinem ersten Jahr 2021 robust entwickelt. Lag die Arbeitslosenquote zum Amtsantritt bei 6,3, betrug sie Ende 2021 noch 3,9 und liegt aktuell mit 3,7 Prozent wieder auf Vor-Corona-Niveau. Die Inflation, zwischenzeitlich auf Rekordhoch, betrug zuletzt 7,7 Prozent – besser als vielerorts in Europa. Die Spritpreise fielen, wovon Biden profitierte. Er konnte die Waffengesetze leicht verschärfen und die Gesundheitsversorgung für Veteranen verbessern.

Mit dem Inflation Reduction Act vom Sommer brachte er ein Klima- und Sozialpaket für 430 Milliarden Dollar durch. Es soll die Inflation bekämpfen, das Klima schützen und Bürgern mehr Finanzspielraum geben. So soll jemand, der ein Elektroauto statt eines Verbrenners kauft, finanziell so entlastet werden wie ein Hausbesitzer, der klimaschützend renoviert. Die oft astronomischen Arzneigebühren werden reduziert, hilfreich vor allem für Ältere. Doch auch ohne das Gesetz zu karikieren: Es ist das Kind drastischer Schrumpfung. Geplante Leistungen von anfangs 3,5 Billionen Dollar und Vorhaben für Klimaschutz und soziale Besserstellung lösten sich in Luft auf.

Richtig lagen die Demokraten mit ihrer Parteinahme für das Grundrecht auf Schwangerschaftsunterbrechung. Nachdem das Oberste Gericht das Recht auf Abtreibung gekippt und den USA so ein großes Stück Lebensnähe genommen hatte, erließ mehr als die Hälfte der 50 Bundesstaaten striktere Abtreibungsverbote. Das Reizthema war bei der Wahl ein Hauptgrund für den republikanischen Dämpfer. Umfragen ergaben, dass das kassierte Recht für viele Demokratinnen nach Inflationssorgen zweitwichtigster Grund für ihre Stimmabgabe war. Vieles aber bleibt beim Thema umkämpft. Vielerorts wissen Frauen nicht, wohin sie sich wenden können. Ärzten ist unklar, was sie in der neuen Situation noch tun können – und dürfen –, um Frauen in Not zu helfen.

Bidens geringe Beliebtheit hat mit seinem Alter und einigen von der Konkurrenz aufgebauschten sprachlichen wie körperlichen Fehltritten zu tun, aber auch mit mangelnder Führungsstärke. Mit der Erfahrung schlimmer Schicksalsschläge in der eigenen Familie hat sich Joe Biden nach gesellschaftlichen Katastrophen als empathischer Tröster oft Zuneigung erworben. Die Gabe, ein größeres Publikum zu fesseln oder mit einer weitblickenden Rede zu entflammen, ist ihm nicht gegeben. Auch als seine Umfragewerte im Sommer stiegen, wünschten selbst 64 Prozent der Demokraten, er möge 2024 einem Jüngeren Platz machen. Der älteste Präsident vor Biden, Ronald Reagan, war 77, als er das Amt verließ. Sollte Biden erneut antreten, wäre er bei seiner zweiten Einführung 82. Seine medizinischen Werte indes sind gut. Er gilt als »Super Ager«, als einer, dem langes Leben bei langer Fitness beschieden sein könnte.

Sein Alter ist Dauerthema, seit er 2019 die Kandidatur erklärte. Der Präsident nimmt sich oft Auszeiten in seinem Strandhaus in Delaware. Dennoch gibt es bis heute keine Rede, keine einzige Idee von ihm, die sich eingebrannt hätte. Auch deshalb laufen Planungen für die Zeit nach ihm. Heikel, denn echte oder selbst erklärte Hoffnungsträger müssen genau bedenken, wann sie vortreten. Einen Mann im Amt zu schwächen, wird selten honoriert. Und dass Biden gerade jetzt, da er die Midterms passabel bestritt und der Löwe Trump wieder brüllt, ankündigt, sich mit vier Jahren zu begnügen, hieße, sich ohne Not selbst zur lahmen Ente zu stempeln.

Auf mindestens einem Feld, das zeigt die Asienreise diese Woche, setzt Biden den Kurs seines Intimfeinds Trump fort: gegenüber China. Das wurde beim ersten Treffen auf Präsidentenebene zwischen Biden und Chinas neuem Alleinherrscher Xi Jinping auf Bali deutlich. Die EU und Deutschland müssen sich daher darauf einstellen, dass der aus geopolitischer Schwächung resultierende Versuch, die Volksrepublik einzudämmen, bis auf Weiteres eine Konstante der US-Außenpolitik bleiben wird.

Biden ist nicht halb so ungezügelt und reaktionär wie Trump, und er ist von einem bisher geeint handelnden Team mit Disziplin und Augenmaß umgeben. Dies zeigt sich nicht zuletzt gegenüber Russlands Aggressionskrieg, von dem auch heute keiner weiß, wie viel mehr es von ihm geben, wann und wie er enden wird. Sicherheitsberater Jake Sullivan, so wurde bekannt, bemüht sich in Bidens Auftrag um Deeskalation – insbesondere, was Moskauer Drohungen mit Nuklearwaffen angeht. Jüngst sprach er mehrfach mit höchsten Putin-Beratern, besonders nachdem der Kreml die Ukraine ohne Beweise beschuldigte, eine radioaktive Bombe einsetzen zu wollen.

Andererseits soll Bidens Regierung die Ukraine-Führung inoffiziell ermutigt haben, Bereitschaft zu Verhandlungen mit Russland zu signalisieren. Das Drängen ziele nicht darauf, sie zu Verhandlungen zu zwingen. Man versuche jedoch, Kiew die Unterstützung der Länder zu bewahren, deren Bürger einen Krieg über viele Jahre befürchten. Bis heute haben die USA die Ukraine zur Selbstverteidigung mit rund 60 Milliarden Dollar unterstützt, rund zwei Drittel davon militärisch. Was geschehen wäre, hätte bei Russlands Überfall nicht Biden, sondern der – auch mit Putins Schützenhilfe – ins Amt gelangte Trump regiert, will man sich nicht ausmalen. Die Europäer, vor allem aber die heimgesuchten Ukrainerinnen und Ukrainer, hatten mit Blick auf Russlands barbarischen Krieg Glück im Unglück, dass Joe Biden Präsident war.

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