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Ein Licht für jeden einsam Gestorbenen
Erste Gedenkfeiern für ordnungsbehördlich Bestattete in Pankow und in Charlottenburg-Wilmersdorf
Die Atemluft kondernsiert. Es ist kalt am Freitagabend auf dem Anger an der Breiten Straße in Pankow. Die Temperatur liegt nur knapp über dem Gefrierpunkt. Aber 30 Menschen harren andächtig aus. Erstmals gibt es im Bezirk eine Gedenkstunde für die ordnungsbehördlich Bestatteten. Das sind Menschen, die »einsam lebten und in ihren Wohnungen tot aufgefunden worden sind, oft erst nach Tagen«, erklärt Pfarrerin Ann-Kathrin Hasselmann vom evangelischen Kirchenkreis Berlin Nord-Ost.
Wenn das Bezirksamt nicht innerhalb von 14 Tagen Angehörige ausfindig machen kann – Pankow reagiere da sehr schnell, sagt Hasselmann –, werden die Toten von Amts wegen und auf Staatskosten beerdigt. In der Regel werden die Betroffenen zentral auf dem Alten Domfriedhof in der Liesenstraße in Berlin-Mitte beigesetzt. In seltenen Fällen melden sich dann nach Ablauf der Frist doch noch Verwandte, weiß Hasselmann. Doch fast immer haben die Verstorbenen anscheinend wirklich keine Hinterbliebenen und sehr häufig hinterlassen sie auch wenig bis gar kein Vermögen. Sie waren also auch in dieser Beziehung arm dran.
Bei jährlich insgesamt 37 000 Todesfällen in Berlin gibt es jeweils etwa 2700 ordnungsbehördliche Bestattungen. Davon entfallen dann rund 240 auf den Bezirk Pankow. Dieses Jahr waren es in Pankow bis jetzt 223. Ihre Namen werden bei der Gedenkstunde öffentlich verlesen. »Wir kennen die Lebensgeschichten dieser Menschen nicht«, bedauert Hasselmann. Aber mit dem Verlesen der Namen solle ein Zeichen gesetzt werden, dass sie nicht vergessen werden. Das ist umso verdienstvoller, als die ordnungsbehördlichen Beisetzungen anonym erfolgen.
In anderen Bezirken gibt es teils schon lange solche Gedenkfeiern wie die am Freitagabend auf dem Anger. Doch in Pankow habe es bislang Bedenken gegeben, etwa in der Art, man wisse ja gar nicht, ob die Verstorbenen dies gewünscht hätten, berichtet Hasselmann. Auch ist der Pfarrerin und ihre engagierten Mitstreitern allein schon aus Gründen des Datenschutzes die Religion der Menschen, deren Namen sie verlesen, nicht bekannt. Da Pankow ein Ostberliner Stadtbezirk ist und viele Ostdeutsche schon jahrzehntelang keine Bindung an die christlichen Kirchen haben, muss von vielen Atheisten ausgegangen werden. Doch dafür hat sich eine Lösung gefunden: Das Gedenken am Freitagabend ist relativ weltlich gehalten und neben der Pfarrerin Hasselmann beteiligt sich extra auch Regina Malskies vom Humanistischen Verband – außerdem Franziskanermönch Bruder Johannes und Imam Scharjil Ahmad Khalid von der muslimischen Ahmandiyya-Gemeinde im Pankower Ortsteil Heinersdorf. So sind nicht alle, aber doch verschiedene Weltanschauungen vertreten. Es wird nicht gebetet. Stattdessen tragen auch die Geistlichen besinnliche Texte vor. Florian Sören Gerts und Besim Ismaili spielen dazu passende Musik auf einem Keyboard.
Das ist dann schon etwas anderes als der spezielle Gedenkgottesdienst, den das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf am Sonntagabend zusammen mit dem dortigen evangelischen Kirchenkreis in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zelebrieren wollte. Auch hier sollte es das erste offizielle Erinnern an die ordnungsbehördlich Verstorbenen im Bezirk sein. 248 hat es in Charlottenburg-Wilmersdorf im laufenden Jahr gegeben.
Natürlich bietet eine Kirche einen feierlichen Rahmen. Auf dem Anger in Pankow stört ein wenig der Straßenverkehr. Zumal gleich daneben ein Auto außerhalb der Parktaschen abgestellt ist und unmittelbar vor einer Ampel einen Fahrstreifen blockiert. Immer wieder sortieren sich Autofahrer dahinter ein und hupen dann bei Grün, weil sie nicht realisieren, dass niemand in diesem Auto sitzt und losfahren könnte. So problematisch ist die Geräuschkulisse dann aber doch nicht. Die Lautsprechenanlage übertönt das.
Um 18.13 Uhr beginnt die Verlesung der Namen: ein Uwe, noch ein Uwe, ein Detlef, eine Else – und es werden Stück für Stück 223 Teelichter entzündet, für jeden Verstorbenen eins. Um 18.41 Uhr ist der letzte Tote, ein Jens, genannt. Etliche Teilnehmer bedanken sich bei Pfarrerin Hasselmann für die würdevolle, gelungene Gedenkfeier. Sozialstadträtin Cordelia Koch (Grüne) hat dies gleich zu Beginn getan. Ein Mann sagt, er habe sich bei jedem Namen einen Bekannten vorgestellt, der auch diesen Vornamen trägt. Nächstes Jahr, dann am 24. November, soll es wieder so eine Gedenkstunde geben.
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