Von Träumen befreit

Merab Ninidzes jüngste Rolle spielt »Nirgendwo in Afrika«. Sein Debüt gab er in Georgien, in »Die Reue« von Tengis Abuladse

  • Nino Ketschagmadse und Oliver Renn
  • Lesedauer: 10 Min.
Mit dem Film »Die Reue«, dem Boten vom Ende der Sowjetunion, wurde der Georgier Merab Ninidze weltbekannt. Als gefeierter Theater- und Film- schauspieler verließ er Anfang der 90er Jahre seine Heimat. Auf der Suche nach sich selbst fand er sich nach einer Weile in Österreich wieder. Hinter ihm liegen politische und seelische Zusammenbrüche, in der Emigration lebt er noch immer.
In Tbilissi wird dich keiner als Briefträger arbeiten lassen. Wenn du kein Geld hast, sagen sie, hol es vom Onkel oder wir geben es dir.« Was aber, wenn die Familie das Geld nicht geben kann? Wenn man statt in Tbilissi in Wien wohnt und dazu kaum Deutsch spricht? Wissend, dass seine Verdienstmöglichkeiten in der Fremde nicht rosig waren, setzte sich der renommierte Schauspieler ein paar Monate aufs Fahrrad, auch, um die Erfahrung körperlicher Arbeit, die er in seiner Jugend verpasst hatte, nachzuholen. Merab Ninidze war richtig stolz auf sich, so dass er in seiner Heimat Georgien 1995 bei einem Interview offen darüber erzählte. Am nächsten Tag wusste die ganze Hauptstadt, dass einer ihrer besten Darsteller in Österreich als Postbote arbeitet. Und Merab hatte zu tun, seine geknickten Verwandten zu beruhigen. Mittlerweile sind zehn Jahre vergangen, seit Wien zur Wahlheimat für den einstigen Mädchenschwarm wurde. Neben hier zu Lande wenig bekannten Produktionen war Merab 1999 an der Seite von Moritz Bleibtreu und Chulpan Khamatova in »Luna Papa« und in diesem Jahr in Achim von Borries zu Recht viel gelobtem Melodram »England!« zu sehen. Seine jüngste Rolle als Walter Redlich, ein deutscher Anwalt jüdischer Abstammung, der mit seiner Familie vor den Nazis nach Kenia fliehen musste, dürfte Ninidze in Deutschland zum endgültigen Durchbruch verhelfen. Allein schon, weil der von Bernd Eichinger produzierte und von Caroline Link inszenierte epische Streifen »Nirgendwo in Afrika« so herrlich schwermütig ist. Doch für Merab Ninidze haftet an dieser Produktion auch ein bitterer Beigeschmack. Es ist das erste Mal für den 36-Jährigen, dass er sich auf der Leinwand nicht selber sprechen hören kann. Regisseurin Link schätzte zwar seinen Ehrgeiz, neben Suaheliunterricht, der dem ganzen Filmteam anheim gestellt war, zusätzlich extra Deutschstunden zu nehmen, ließ ihn aber trotzdem synchronisieren. Auf Dauer wäre eine solche Lösung für ihn nicht befriedigend. »Das ist ein Gefühl, als ob eine Hälfte von dir da ist und die andere Hälfte nicht dabei sein darf. Das kann man nicht so leicht verdauen.« Er spricht zwar mittlerweile recht fließend, um aber perfektes Bühnendeutsch zu liefern, bräuchte es weitere drei Jahre intensiver Arbeit. Das weiß er. Als er versuchte, in Westeuropa Fuß zu fassen, stellte Merab fest, dass seine bis dahin größte Filmproduktion trotz des Erfolgs im Ausland, zu der unter anderem der Spezial-Preis der Jury in Cannes zählt, im deutschsprachigen Raum gar nicht so bekannt war. »Die Leute haben so ihre Legenden über georgische Filmemacher im Kopf und dabei etwas über "Die Reue" gehört. Wohl nur wenige haben den Film gesehen.« Dabei ist dieser Film für ihn nicht nur wichtig, weil er darin seine erste Kinorolle spielte, sondern vor allem weil »Die Reue« eine ganze Generation traumatisieren sollte. Am Anfang waren es sein Großvater und die Großmutter, die es kaum erwarten konnten, das Drehbuch in die Hände zu bekommen. Vom Hörensagen wussten sie schon von der Beteiligung ihres Enkels an dem Filmprojekt, das an Tabus rütteln sollte und unter der persönlichen Schirmherrschaft des damaligen ersten Sekretärs der georgischen Kommunistischen Partei, Eduard Schewardnadse, stand. Es ging um die Vergangenheit, um Stalin, um Repressionen, um sinnlose Opfer und um Diktatur. Über diesen Teil der sowjetischen Geschichte hatte Merab bis dato wenig gelernt. Er wusste zwar, dass seine Großmutter aus einer gutbürgerlichen Familie kam, wo sie als Kind Klavier gespielt und Französisch gelernt hatte, und dass sie mit einem revolutionären Arbeitersohn verheiratet war, aber nicht, dass ihr Vater als »Volksfeind« erschossen wurde. »Mein Großvater war schockiert, nachdem er das Drehbuch gelesen hatte. Für ihn wurden die alten Ideale zerstört und in den Schmutz gezogen. Die Großmutter hingegen war sehr stolz, dass es nun jemand wagte, Dinge klar auszusprechen und sich nicht mehr nur mit Andeutungen zu begnügen. Das war eine gewisse Rehabilitation für sie und für ihren Vater.« Durch einen tragischen Vorfall ist der damals 17-Jährige zu der Rolle des schweigsamen Jugendlichen gekommen, für den die Welt zusammenbricht, als er die wahre Geschichte seiner Familie erfährt. Ursprünglich war sie für einen anderen jungen Schauspieler bestimmt, der nach dem gescheiterten Versuch, ein Flugzeug zu entführen, um aus der Sowjetunion zu fliehen, von der damaligen georgischen Regierung zum Tode verurteilt wurde. Seine bereits abgedrehten Szenen wurden herausgeschnitten und mit Merab noch einmal aufgenommen. »Bis heute ist mein Gefühl zwiespältig: Einerseits diese Freude, weil der Film mir viele Türen geöffnet hat, andererseits Unbehagen wegen dieser Todesstrafe.« Da wurde für ihn deutlich, dass das Ende des Systems absehbar war. Besonders, als der KGB ihn und andere Teammitglieder zum Verhör bestellte. Im Gegensatz zu seiner Mutter, die sich um ihren einzigen, ohne Vater aufge- wachsenen Sohn große Sorgen machte, hatte er keine Angst. »Es war alles so absurd! Wir haben über den KGB nur gelacht. Meine Generation hat in der Schule keine Uniform mehr getragen, und wir haben die Beatles gehört. Es war überhaupt nicht so streng, wie man es sich hier vorstellt, etwa dass wir ängstlich in einem Käfig gelebt hätten.« Und so passiv wie viele in ihrem Schicksal gefangene Film- und Theaterhelden wollte Merab sowieso nie sein. »Als ich die Rolle in "Die Reue" hatte, habe ich angerufen und dem Regisseur gesagt, ich hätte eine Korrektur an der ganzen Geschichte. Der Selbstmord sei für mich unverständlich, die Figur des Tornike solle am Ende einfach weg von zu Hause und nie wieder zurückkommen.« Merab konnte und wollte nicht nachvollziehen, warum 15- und 16-jährige Menschen für die Taten der Großväter und Väter bezahlen sollten. »Aber dieser Film hat auf unsere Generation so gewirkt, dass wir nach einer Weile den Selbstmord im übertragenen Sinne wirklich praktizierten, entweder im Krieg, durch Emigration oder in unserem Untergrundleben oder auch nur in unseren Depressionen. Er hat uns von Träumen befreit, von einem Tag auf den anderen.« Auch er selbst sei schleichend zu seinem »Selbstmord« gekommen. Am Anfang gab es noch eine friedliche Aufbruchstimmung, die Gewissheit, dass sich das verrostete System langsam aber sicher seinem Ende näherte. Mit der eigenen Schauspielkarriere klappte es auch gut. Als Leonce und gar als Hamlet stand er auf der bedeutensten Bühne Georgiens, im Rustaveli-Theater, wo er bereits mit zwölf Jahren bei »Richard III.« mitwirkte und statt die Schulbank zu drücken auf Gastspiele nach England, Italien, Griechenland oder in die Schweiz fahren durfte. Georgische Kinogänger verbinden mit dem Mann, dessen Gesicht auch im richtigen Leben einen Anflug vom Schwermut trägt, bis heute den Paradedarsteller von ausgelaugten, müden Jugendlichen, die nicht mehr wissen, was sie sagen oder machen sollen. Er war damals die Verkörperung des Seelenschmerzes einer ganzen Generation. Und dann kam der April 1989. Halb Tbilissi war auf den Beinen. Zum ersten Mal demonstrierten Menschen mit der Forderung nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Zum ersten Mal seit 1921 wehten in den Straßen weinrote Fahnen. »Wir Schauspieler sind auch raus gegangen. Die Leuten erkannten uns, skandierten unsere Namen, folgten uns. Wir haben auf der Straße gesungen, trugen Anstecknadeln mit den georgischen Nationalfarben, die man davor noch nie gesehen hatte, auf der Brust. Es war eine Art Popkultur mit Hungerstreiks und Übernachtungen vor dem Regierungsgebäude.« Am 9. April, als die Spezialtruppen der Sowjetarmee in der Nacht die friedlichen Demonstranten mit Spaten und Gas niederschlugen und es mehr als 20 Tote gab, war Merab jedoch nicht dabei. Schon zu der Zeit hatte er beschlossen, dass sich in seinem Leben bald einiges ändern musste. Das Eingesperrtsein, sei es auch nur im festen Engagement, befriedigte ihn auf Dauer nicht. Er wollte weg, raus aus dem Theater, raus aus dem Land, in dem es später, zum Jahreswechsel 1991/92 zum Bürgerkrieg kam und das gesellschaftliche Leben fast erlosch. Mit 25 fühlte er sich wie ein »Veteran« und fand keine Kraft mehr, weiter zu machen. Er hatte sich, wie er sagt, selbst ausgeschöpft. Hinzu kam, dass man mit dem Gehalt eines Mimen nicht mehr existieren konnte. »Die Zeit war reif, zu überlegen: Entweder schaffe ich mir einen kleinen Lebensmittel-Kiosk an, oder ich tue etwas anderes.« Merab wollte, ja musste eine Pause einlegen. »Ein bisschen nichts tun.« Für ein paar Jahre von einem Land zum anderen ziehen, nach London, nach Paris, sich andere Theater anschauen, andere Schauspieler, andere Regisseure. »Ich brauche Erfahrung, ich kann nicht in dem gleichen Topf kochen die ganze Zeit«, sagte er damals zu seinem georgischen Theaterchef. »Ich dachte, das sollte man verstehen.« Die Kollegen wollten ihn aber nicht verstehen und den erfolgreichen Schauspieler erst recht nicht gehen lassen. Zufällig machte Merab Ninidze in dieser Zeit Bekanntschaft mit einem österreichischen Regisseur, der in Tbilissi einen Dokumentarfilm über die Freiheitskämpfe und den Bürgerkrieg drehen wollte. Merab engagierte sich gleich voll bei dem Projekt, auch hinter der Kamera. »Der Film wurde sehr wichtig für mich, weil ich endlich einmal nicht nur als Darsteller tätig war, sondern einfach als Mensch.« Goran Rebics Dokumentation »Am Rande der Welt« brachte auch einen wichtigen Wendepunkt in Ninidzes Biographie: Er kam nach Wien. Zunächst nur für kurze Zeit, um zusammen mit Rebic den Film zu schneiden. Nach fünf Monaten bekam Merab aber eine Anfrage für eine Rolle. Weil seine Figur keinen Text hatte, war es kein Problem, dass er kein Deutsch sprach. Die Regieanweisungen bekam er auf Englisch, und so kam der nächste Wendepunkt: »Ich dachte, es ist eigentlich egal, wo du arbeitest, Hauptsache, du kannst machen, was du am liebsten tust.« Und so blieb er bis heute in Wien, liebäugelt ab und an damit, etwa nach Berlin zu ziehen, verfällt dann aber in Bequemlichkeit. Auch weil er in Österreich gelernt hat, wie schwer es in Westeuropa ist, sich ein soziales Umfeld aufzubauen. Anfangs genoss er zwar sein Inkognitoleben im Lande mit dem ungewohnten Tempo und Rhythmus. Er genoss, dass keiner etwas von ihm wissen wollte, dass er sich mit den politischen Geschehnissen in Österreich nicht auseinander setzen musste. Er träumte weiter von seiner Heimat, kapselte sich ab, schlug sich mit Nebenjobs durch, schickte Geld nach Hause zu seiner Mutter und lernte die Ausländerbehörde kennen. Sein damaliger Agent machte ihm keine Hoffnungen, dass er in der hiesigen Filmbranche je Fuß fassen würde. Merab ging auf die Dreißig zu und wurde langsam unruhig. Er kam sich verloren vor, wusste nicht mehr, was er eigentlich in Wien zu suchen hatte. Warum er »Deutsch sprach und überhaupt«. Freunde meinten, er sollte nach New York gehen, nach London. Das hätte er auch gemacht, wenn er nur genug Geld gehabt hätte. Und dann erneut ein Wendepunkt. In Form einer kleinen, schauspielerisch wenig anspruchsvollen Rolle als böser russischer Mörder in einer »Kommissar Rex«-Folge. Wenn sich Ninidze heute daran erinnert, lacht er. »Ich verstehe nichts« und »Halt's Maul« waren die beiden Sätze, die er zu sagen hatte, und »natürlich« musste er entsprechend auftreten. Derlei Seriencharaktere durfte er noch einige abgeben. Nur langsam wurden die Rollen wieder anspruchsvoller und die Sätze länger. Und Merab erkannte, dass er wieder Spaß am Job als Schauspieler hatte. Was ihn neben seiner »ausgesprochen tiefen Seele«, seiner Fähigkeit, sich in Kollegen einzufühlen, und seinem Humor, von dem auch seine mehrfache Filmpartnerin Chulpan Khamatova schwärmt, vor allem auszeichnet, ist die unglaubliche Präzision, die er bei der Arbeit an den Tag legt. Dies bescheinigt ihm nicht nur Regisseur Achim von Borries, der gerade an einem Drehbuch strickt, dass Merabs »wilde Seite« zur Geltung bringen soll. Im Unterschied zu den meist traurigen und ruhigen Figuren, die Ninidze bisher mit Leben füllen durfte, kennt Borries ihn nämlich als einen, der »total ausflippen« kann. Im positiven Sinne des Wortes. Merabs letzte Filme kamen in seiner Heimat gut an. Das verstärkte den Wunsch, in Georgien ein paar Bühnenprojekte zu realisieren. In seinen ersten Jahren in Wien schrieb er ein Theaterstück über zwölf entwurzelte Menschen, die in einem kleinen Raum aufeinander sitzen. Das Schreiben war damals wie eine Therapie für ihn, um gegen die aufkommende Verzweiflung anzukämpfen. Etwas von ihm, etwas von seinen Bekannten in Österreich und »andere Wahrheiten« würden sich in dieser Komödie wiederfinden. Inszenieren will Merab Ninidze selbst. Vielleicht in zwei, drei Jahren. Und er freut sich darauf, als ein gestandener Mann zu seinen früheren Kollegen zurückzukehren.

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