Angst vor Polizeiwillkür

In El Salvador geht der Staat hart gegen kriminelle Banden vor, doch er trifft auch viele Unschuldige

  • Andreas Boueke, Sonsonate
  • Lesedauer: 9 Min.
Die salvadorianischen Sicherheitskräfte präsentieren am 30. Juni 2022 in der Stadt Santa Ana ihre »Beute«: Verhaftete Mitglieder der Bande »Barrio 18 Sureños«
Die salvadorianischen Sicherheitskräfte präsentieren am 30. Juni 2022 in der Stadt Santa Ana ihre »Beute«: Verhaftete Mitglieder der Bande »Barrio 18 Sureños«

Aparicio Franco, genannt Don Ticho, tun die Knie weh – Arthrose. Der alte Mann mit grauem Schnurrbart sitzt stundenlang unter den rostigen Wellblechplatten vor seinem Häuschen in der Provinz Chalatenango, im Norden von El Salvador. Er vermisst seinen Sohn Ernesto und den Enkel Alexander. Das letzte Mal hat er die beiden vor sechs Monaten gesehen. Er erzählt, wie an jenem Abend plötzlich eine Patrouille aufgetaucht ist. Eigentlich wollten die Polizisten Don Tichos ältesten Enkel festnehmen. Doch als sie den nicht fanden, beschlossen sie, stattdessen seinen jüngeren Bruder und den Vater mitzunehmen. Dessen Schwester Guadalupe ist empört über die Willkür: »Sie kamen einfach ins Haus und verlangten unsere Ausweise. Dann haben sie meinen Neffen gesucht. Sie sagten nur, er müsse mitkommen, um eine Aussage zu machen. Tatsächlich geht es den Polizisten nur darum, eine bestimmte Zahl an Verhaftungen zu machen. Sie haben dann meinen anderen Neffen und meinen Bruder mitgenommen, ohne jegliche Begründung. Seither wissen wir nicht, wie es ihnen geht.«

Die Regierung des populistischen Präsidenten Nayib Bukele hat ein sogenanntes Notfallregime etabliert, einen Ausnahmezustand zur Bekämpfung krimineller Banden. Die Verfassung erlaubt das für bis zu 30 Tage, üblicherweise nach Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Tropenstürmen. Doch im Kampf gegen das organisierte Verbrechen hat das salvadorianische Parlament den Notstand nun schon so oft verlängert, dass sich die Polizisten daran gewöhnt haben, jede Person ohne Haftbefehl und ohne jegliche Ermittlung festnehmen zu dürfen. Bisher wurden über 50 000 Menschen weggesperrt. Niemand weiß für wie lange. Die in der Verfassung garantierte Unschuldsvermutung ist aufgehoben. Angehörige bekommen so gut wie keine Informationen. Trotzdem müssen sie die Verpflegung der Häftlinge kaufen, für 150 Dollar im Monat. Guadalupe schimpft: »Jeden Monat müssen wir ein Paket mit Lebensmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln zu einem Gefängnis bringen, obwohl wir gar nicht genau wissen, in welchem sie sind. Ich habe mit einem Jungen gesprochen, der frei gelassen wurde. Er hat gesagt, dass die Gefangenen ihre Pakete nie zu sehen bekommen.«

Die Massenverhaftungen sind eine zentrale Strategie im Krieg gegen die Maras, die berüchtigten Jugendbanden El Salvadors. Vor allem aber geht es um den Machterhalt des jungen Präsidenten Nayib Bukele. Der hat während der Corona-Pandemie gelernt, das Land mit Notstandsmaßnahmen unter seine Kontrolle zu bringen. Jetzt will er seine Wiederwahl sichern. Eigentlich verbietet die salvadorianische Verfassung eine direkt anschließende zweite Amtszeit eines Präsidenten. Doch auf Verfassungsvorgaben legt Bukele genauso wenig Wert wie auf die Menschenrechte der Häftlinge.

60 Kilometer von der Hauptstadt El Salvador entfernt liegt das Städtchen Sonsonate. Noch vor Kurzem galt der Ort als Hochburg der brutalen Clique »Cocos Locos«. Die »verrückten Kokosnüsse« sind eine der einflussreichsten Einheiten der größten kriminellen Bande des amerikanischen Kontinents: die Mara Salvatrucha. Jahrzehntelang waren sie verantwortlich für ungezählte Morde in Sonsonate.

Der Mechaniker Balmore Giménez besitzt eine Autowerkstatt am Stadtrand. Als Kleinunternehmer beurteilt er die Politik des Präsidenten völlig anders als die Angehörigen der Inhaftierten. Ihm ist es egal, ob sich Nayib Bukele als Autokrat aufspielt. Im Tausch gegen eine Verbesserung der Sicherheitslage gibt er gerne viele seiner Rechte auf. So sehen es die meisten Salvadorianer. »Meiner Meinung nach leistet der Präsident eine hervorragende Arbeit«, sagt Balmore Giménez.

Nayib Bukele hat eine eigene Partei gegründet und sie »Nuevas Ideas« genannt, »Neue Ideen«. Ihre Mitglieder wollen nicht links sein oder rechts, sondern anders. Die Skepsis der internationalen Gemeinschaft ist ihnen ziemlich egal. Dass der Präsident sich mit der Europäischen Union genauso angelegt hat wie mit den USA und der Weltbank, hat ihn in den ärmlichen Siedlungen der Städte El Salvadors eher noch populärer gemacht. Die Menschen dort haben lange in Angst vor Gewalt und Erpressung gelebt, so auch Balmore Giménez: »Diesen Kriminellen ist es völlig egal, ob dein Geschäft gut läuft oder schlecht. Die Erpressungen hören nie auf. Ihre Eintreiber machen nichts anderes, als ständig Geld einzusammeln.«

Ursprünglich formierten sich die beiden größten Banden Lateinamerikas, die Mara Salvatrucha und ihre Gegner, die Mara 18, unter salvadorianischen und mexikanischen Migranten in Los Angeles, Kalifornien. Heute haben sie in Nord- und Mittelamerika angeblich rund eine halbe Million Mitglieder. Die Siedlung, in der Balmore Giménez aufgewachsen ist, war lange unter der Kontrolle der Mara Salvatrucha. Wer sich weigerte, ihren Erpressern eine Quote zu zahlen, wurde ermordet. Die kleinen Geschäftsleute fühlten sich ohnmächtig angesichts der Gewalt der Banden. Alle zahlten. »Heute ist das anders. Die meisten meiner Nachbarn werden nicht mehr erpresst. Sie haben keine Angst mehr und trauen sich jetzt, die Gangster anzuzeigen. Früher hat das niemand gemacht. Wir wussten, dass viele Polizisten eng mit den Erpressern in Kontakt standen. Heute werden die Hinweise vertraulich behandelt. Es gibt eine Telefonnummer der Sicherheitsbehörden, die du anonym anrufen kannst, um jemanden anzuzeigen. Und schon wenig später wird er festgenommen.« Nach erfolgter Festnahme können die Hinweisgeber eine Belohnung bekommen. Unter diesen Umständen kommt es natürlich häufig zu falschen Anzeigen. Doch den Berichten über Festnahmen Zehntausender Unschuldiger schenkt die Bevölkerung wenig Aufmerksamkeit. Eine deutliche Mehrheit unterstützt die drastischen Maßnahmen der Regierung.

Wer im Rahmen der Notstandsgesetze inhaftiert wird, hat kein Recht auf einen eigenen Strafverteidiger. Alle Häftlinge bekommen staatliche Anwälte zugeteilt, von denen manche über 1000 Fälle betreuen. Die meisten unabhängigen Anwälte würden sowieso keine Fälle der vielen unschuldig Inhaftierten übernehmen. Auch sie haben Angst.

Ein junger Anwalt ist zu einem anonymen Interview bereit: »Keiner meiner Kollegen würde mit Ihnen sprechen. Niemand will seine Meinung sagen. Wir hoffen alle, dass sich diese Situation bald ändert.« Der korpulente Mann trägt eine Brille mit dicken Gläsern. »Wenn du einen Gefangenen des Ausnahmezustands verteidigst und vielleicht sogar rausholst, dann wirst du als Unterstützer der Banden gebrandmarkt. Das könnte dich selbst ins Gefängnis bringen. Deshalb will fast niemand solche Fälle übernehmen.«

Der Jurist ist sich sicher: El Salvador ist heute kein Rechtsstaat mehr. »Früher war eine Festnahme das Ergebnis einer polizeilichen Ermittlung. Es gab Indizien und Beweise, dass die Person an einem Verbrechen beteiligt war. Heute braucht es nur noch einen Hinweis, eine anonyme Information, einen Verdacht, die Nervosität eines Jungen, der von einem Polizisten befragt wird, und schon wird jemand festgenommen.«

In El Salvador leben knapp sieben Millionen Menschen. Die Zahl der Häftlinge hat sich seit Beginn des Ausnahmezustands auf über 100 000 verdoppelt. Das schon zuvor völlig überlastete Justizsystem ist den Massenverhaftungen nicht annähernd gewachsen. Die wenigen Richter verhandeln nicht mehr einzelne Fälle, sondern treffen Entscheidungen über Gruppen Hunderter Angeklagter. »Wenn zum Beispiel in einer Woche 200 Personen im Norden des Landes festgenommen wurden, dann wird in einer einzigen ersten Anhörung über alle zusammen entschieden«, weiß der Rechtsanwalt.

Als Konsequenz des Ausnahmezustands entscheiden sich noch mehr Salvadorianer als zuvor, ihr Land zu verlassen. Jede Woche machen sich Tausende auf den gefährlichen Weg durch Guatemala und Mexiko in Richtung USA. Dort leben schon jetzt rund eine Millionen Migranten aus El Salvador ohne legale Aufenthaltsgenehmigung.

Ein großer Teil der jungen Generation sieht in El Salvador inzwischen keine Zukunft mehr für sich. Einige Organisationen versuchen, das zu ändern. Die Stiftung Tamarindo etwa hat Angebote entwickelt, um der Jugend neue Möglichkeiten zu eröffnen. In Ausbildungsprogrammen lernen die jungen Leute, diszipliniert zu arbeiten.

Der Sozialarbeiter Santos Alfaro koordiniert die Programme der Stiftung in dem Dorf Guarjila. Er macht sich Sorgen, dass dort bald keine jungen Männer mehr leben werden. Doch im Grunde genommen hält er es für richtig, dass die Regierung rigoros gegen die kriminellen Banden vorgeht: »Es ist positiv, dass der Drogenhandel unterbunden wird. Aber dafür wäre es gar nicht nötig, einen Ausnahmezustand auszurufen. Um Verbrecher einsperren zu können, muss die Regierung dem Volk nicht seine Rechte nehmen.«

Guarjila ist ein Dorf von weniger als 2000 Einwohnern. Seit Beginn des Ausnahmezustands wurden 32 Personen festgenommen. Einer von ihnen war Marvin. Am Tag der Festnahme war er erst 16 Jahre alt. »Ich wollte zum Laden gehen, um ein paar Sachen zu kaufen, als mich plötzlich ein Polizist anhielt. Er sagte, er würde mich festnehmen, weil ich eine schlechte Person sei. Ich würde hier in Guarjila Menschen stören. Aber er kannte nicht einmal meinen Namen. Die anderen Polizisten sagten, es gäbe Zeugen, die gegen mich ausgesagt hätten. Das war eine Lüge. Die Polizisten bekommen Geld, wenn sie eine Quote erfüllen. Deshalb nehmen sie so viele Unschuldige fest.«

Marvin hatte über Jahre in verschiedenen Jugendgruppen der Stiftung Tamarindo mitgemacht. Santos Alfaro kennt ihn gut: »Er ist ein prima Junge. Aber das interessiert die Polizisten nicht. Sie haben ihn mitgenommen, ohne irgendein Motiv.«

Anfangs kam Marvin für drei Monate in Haft. Als er 17 Jahre alt wurde, kam er in ein Gefängnis für Erwachsene. Die Haft wurde um weitere drei Monate verlängert. »Das war die schlimmste Zeit für mich. Ich war deprimiert und habe meine Familie sehr vermisst. Manchmal gab es kein Wasser, und wir konnten den ganzen Tag lang nichts trinken. Wir haben oft lange weder geduscht noch unsere Kleider gewaschen. Es gab nur zwei Mahlzeiten am Tag, um zehn Uhr morgens und um drei Uhr nachmittags. In meiner Zelle waren anfangs 117 Personen. Der Raum war klein. Es gab keinen Platz mehr. Du hast den Dampf der Körper gespürt. Das war extrem heiß, als ob du brennen würdest. In den anderen Zellen waren noch mehr Leute. Von denen kamen nach und nach einige zu uns. Am Ende waren wir 300 in der Zelle.«

Marvin hatte einen staatlichen Pflichtverteidiger. »Doch der hat nichts gemacht. Dann hatte ich das große Glück, dass die Stiftung Tamarindo sich für mich eingesetzt hat. Sie konnte durchsetzen, dass mich eine Rechtsanwältin der katholischen Universität persönlich verteidigen durfte. Sie hat mein Schulzeugnis vorgelegt. Ich war immer gut in der Schule. Daraufhin hat mich der Richter auf Bewährung frei gelassen. Ich sollte sieben Jahre lang viele Auflagen erfüllen. Doch wenigstens war ich frei! Einen Monat später – vor einer Woche – gab es dann noch eine Verhandlung in San Salvador. Dort hat der Richter gesagt, es gebe keinen Grund für die Bewährungsauflagen. Jetzt bin ich wirklich frei!«

Mit Unterstützung des Menschenrechtszentrums der katholischen Universität in San Salvador ist es der Stiftung Tamarindo gelungen, Marvin und drei weitere junge Männer freizubekommen. Santos Alfaro ist stolz auf diesen Erfolg: »Wir konnten ihre Unschuld beweisen. Das war eine große Freude! Aber es ist furchtbar, dass wir nicht alle rausholen konnten.«

Amnesty International spricht von Folter in salvadorianischen Haftanstalten und von inzwischen 18 toten Häftlingen seit Beginn des Ausnahmezustands. Salvadorianische Menschenrechtsorganisationen beklagen den Tod von rund 60 weiteren Gefangenen. Die Erfahrung anderer lateinamerikanischer Länder zeigt, wie schnell sich die Versprechen autoritärer Politiker in Luft auflösen können. Regierungen, die den Rechtsstaat zerstören, um kurzfristige Ziele zu erreichen, werden langfristig zu Totengräbern der Demokratie. Gerade ein nachhaltiger Kampf gegen das organisierte Verbrechen braucht starke staatliche Institutionen, eine unabhängige Rechtsprechung und den Respekt gegenüber den Menschenrechten aller Bürgerinnen und Bürger.

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