»Nieder mit Xi Jinping!«

Hunderte Chinesen protestieren in mehreren Städten gegen die strikten Corona-Maßnahmen

  • Fabian Kretschmer, Peking
  • Lesedauer: 5 Min.

In der Nacht auf Sonntag haben sich die Chinesen von den Fesseln der drakonischen Null-Covid-Politik befreit. In Shanghai zogen bis in die tiefen Morgenstunden mehrere hundert Menschen auf die Wulumuqi-Straße. Dort ließen sie ihrem Frust über die Regierung freien Lauf. »Nieder mit Xi Jinping!«, schrie die Menschenmenge, und immer wieder: »Nieder mit der Partei!« In einem Land, in dem die Leute den Namen ihres mächtigen Landesvorsitzenden nur im Flüsterton auszusprechen wagen, sind solche Proteste nicht nur mutig, sondern auch gefährlich.

Doch immer mehr Chinesen haben das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Ausgezehrt nach zweieinhalb Jahren Pandemie wollen sie die rigiden Einschränkungen der Null-Covid-Politik nicht mehr hinnehmen. Der Corona-Frust hat dazu geführt, dass erstmals seit Jahrzehnten in fast allen Landesteilen die Menschen auf die Straße ziehen: von Guangzhou über Wuhan bis nach Zhengzhou.

Und auch auf dem Campus der altehrwürdigen Tsinghua-Universität in Peking, wo auch Xi Jinping studierte, haben sich unzählige Studierende vor einer Mensa versammelt. In geschlossener Einigkeit halten sie leere Din-A4-Papiere in die Luft. Das Ungeschriebene, das die jungen Chinesen aufgrund der staatlichen Repressionen nicht zu äußern wagen, ist längst zum Symbol für eine tief ersehnte Meinungsfreiheit geworden. »Wenn wir uns aus Angst nicht zu Wort melden, enttäuschen wir unser Volk. Als Tsinghua-Studentin würde ich dies für den Rest meines Lebens bereuen«, hört man in einem Online-Video eine Frau mit zittriger Stimme sagen. Die Menge entgegnet ihr jubelnd: »Habe keine Angst!«

Denn trotz der drohenden Verhaftungen spüren viele junge Chinesen, dass sie nicht mehr länger schweigen können. Ausgelöst hat die landesweite Wut eine tragische, menschengemachte Katastrophe: In der nordwestchinesischen Stadt Urumtschi kamen am Donnerstagabend bei einem Wohnungsbrand im 15. Stock eines Wohnhauses mindestens zehn Menschen ums Leben. In sozialen Medien kritisierten mehrere Anwohner, dass die Notausgänge verschlossen gewesen seien und die Feuerwehrwagen aufgrund der Metallgitter und Ausgangssperren quälend lange gebraucht hätten, um den Unglücksort zu erreichen.

Hätten die Toten verhindert werden können? Es wäre nicht das erste Mal, dass die Lockdowns Menschenleben gekostet hätten: Fast täglich verbreiten sich in Chinas sozialen Medien Smartphone-Videos, die Menschen zeigen, die nach Wochen, manchmal Monaten des Eingesperrtseins von den Dächern in den Tod springen. Doch in den Medien lesen die Menschen nichts von den Schattenseiten der Corona-Politik, und Online-Postings werden innerhalb weniger Stunden wieder gelöscht.

Dabei scheint sich das Ende der Null-Covid-Maßnahmen bereits anzubahnen. Denn trotz der rigiden Vorgaben steigen die Corona-Zahlen in China weiter an. Am Sonntag hat die nationale Gesundheitskommission mit über 39 000 Fällen den vierten Tag in Folge den höchsten Wert seit Beginn der Pandemie registriert. Und jede einzelne Ansteckung führt bislang dazu, dass ganze Wohnsiedlungen abgeriegelt werden und etliche Menschen unter Zwang in Quarantänelager transferiert werden.

Die Auswirkungen dieser Politik lassen sich dieser Tage auch im wirtschaftlich wohlhabenden Peking beobachten: Das politische Machtzentrum des Landes wirkt wie eine einzige Geisterstadt. Nurmehr die Supermärkte haben geöffnet, die wenigen Menschen auf der Straße stehen meist vor den unzähligen PCR-Teststationen an. Selbst in Sanlitun, mit seinen Flagship-Stores und hippen Cocktail-Bars das vielleicht internationalste Vergnügungsviertel der Hauptstadt, haben die Behörden unlängst auf einem Parkplatz 16 weiße Containerkabinen platziert: Dort sollen die Corona-Infizierten der Gegend untergebracht werden – ganz gleich, ob sie Symptome haben oder nicht.

Doch am Wochenende haben sich unzählige Pekinger trotz der anhaltenden Restriktionen ihren Weg in die Freiheit erkämpft, wie das Beispiel einer abgeriegelten Wohnanlage im Bezirk Chaoyang am Sonntag zeigt: Dutzende Bewohner haben sich über die WeChat-App mobilisiert und zur Mittagsstunde in der Lobby verabredet.

Dort haben Mitglieder des Nachbarschaftskommitees sowie Gesundheitspersonal in weißen Schutzanzügen bereits Barrikaden aufgestellt. Doch die Anwohner ignorieren sie, schreiten einfach zur Haustür auf die Straße hinaus. »Gemeinsam sind wir stark«, schreiben sich die Bewohner später in ihrer Chat-Gruppe – erstaunt, dass die staatlichen Autoritäten nicht eingegriffen haben. Draußen sagt der Gruppenführer der Anwohner stolz: »Freiheit ist ein kostbares Gut!«

Und dieses wollen sich immer weniger Chinesen nehmen lassen. Das Wochenende wird als Anfang vom Ende der Null-Covid-Politik in die Geschichtsbücher eingehen. Denn nicht nur haben sich erstmals viele Chinesen den rigiden Lockdown-Maßnahmen der Behörden widersetzt. Auch die Ordnungshüter, inklusive Polizisten, wirken mittlerweile zermürbt nach mehr als zweieinhalb Jahren Ausgangssperren. Nicht wenige von ihnen hegen Sympathien für die wütenden Menschen.

Doch viele junge Chinesen, insbesondere die Demonstranten in Shanghai, werden sich nicht mit Änderungen der Corona-Politik abspeisen lassen. Denn diese ist lediglich Manifestation einer gesellschaftlichen Entwicklung, die unter Xi Jinping seit Jahren zu beobachten ist: China ist zunehmend repressiv, international isoliert und zu einem Überwachungsstaat geworden. Für manche waren die Lockdown-Toten von Urumtschi nur der Funke, an dem sich die Proteste entzündet haben. Doch ihr Wunsch nach einer anderen Gesellschaft reicht darüber hinaus.

Wenig überraschend schlägt am Sonntag die Staatsgewalt in Shanghai am härtesten zurück. Die Wulumuqi-Straße, wo noch vor wenigen Stunden die Leute den Fall der Regierung forderten, ist nun weiträumig von der Polizei abgesperrt worden. Auch auf den umliegenden Plätzen haben die Ordnungshüter vorsorglich Metallzäune aufgestellt.

Dennoch sind die diesmal stillen Demonstranten zurückgekehrt, viele mit Gedenkblumen in den Händen. Einige wurden am hellichten Tag von den Polizisten abgeführt, doch bis zum Nachmittag füllen sich die Straßen mit immer mehr Menschen. Im chinesischen Internet haben die Zensoren sämtliche Videoaufnahmen längst gelöscht. Doch diejenigen, die am Sonntag vor Ort waren, werden die Ereignisse nicht mehr vergessen.

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