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Blinde Flecken

Anat Feinberg rekonstruiert eine jüdische Familiengeschichte

  • Stefan Berkholz
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist nicht zu fassen! Das Haus Freiherr-vom-Stein-Straße 13 in Berlin-Schöneberg bleibt ein Phantom. Es ist nur ein Foto von der einstigen hochherrschaftlichen Villa unweit vom Rathaus überliefert. Das wohlhabende Kaufmannsanwesen, großzügig und gastfreundlich, mit 18 Zimmern und einem großen Obstgarten, ist verschwunden. Ein Dokument vom Oktober 1959 bezeugt, dass das Ruinengrundstück an das Land Berlin übertragen wurde. Seitdem hat sich hier nichts getan. Ein alter Apfelbaum hinter einer menschenhohen, mit Graffiti verzierten Mauer ist das einzige Zeugnis, dass hier einmal Leben war.

Anat Feinberg berichtet über die Grüngards, Zuwanderer aus Schweden, die das großflächige Grundstück 1922 kauften und ein Jahr später, Ende 1923, die prachtvolle Villa bezogen. Hier wurden geistreiche Salonabende abgehalten, Debatten über jüdisches Theater, Dichterlesungen, Filmvorführungen und Benefizkonzerte veranstaltet, auch zionistische Versammlungen fanden hier statt. »Lärm und Trubel zählen im Hause Grüngard zum Alltag.« Das Familienoberhaupt, Faivel Grüngard, schafft so etwas wie ein jüdisches Zentrum am Rande des Schöneberger Stadtparks – zugleich lebt er in seinem Traum vom Gelobten Land. Er beteiligt sich an Beratungen zur Gründung einer jüdischen Genossenschaftsbank, die sich vor allem an Ostjuden und den zionistisch orientierten Mittelstand richten sollte, setzt sich für die Verbreitung der hebräischen Sprache ein, sammelt und wird Anfang 1930 in den neuen Landesvorstand der Zionistischen Vereinigung für Deutschland gewählt.

Zwischen diesen Lebensdaten erfahren wir, wie sich die Zustände in der Weimarer Republik verdüstern. Im August 1927 ziehen 300 Hakenkreuzler durch Charlottenburg, pöbeln und grölen antisemitische Lieder. Doch »von dem antisemitischen Geschwür, das sich in Deutschland ausbreitet, ist bei den Grüngards nur gelegentlich die Rede«, berichtet Feinberg. Wie ein Tagebuch hat sie ihre Spurensuche verfasst. Im August 1928 »nehmen in der Öffentlichkeit die antisemitischen Vorfälle zu«; im März 1929 steigt die Zahl der Arbeitslosen auf über drei Millionen; im Mai 1929 veranstalten die Nazis Prügeleien an der Berliner Universität; Ende Juli 1932 ist die NSDAP stärkste Partei im Reichstag; Ende August 1932 wird Göring zum Reichstagspräsidenten gewählt.

Im Mai 1932 ist Faivel Grüngard Inhaber der Jaffa Goldfruit Cooperative Society in Palästina, im Jahr darauf ist Hitler Reichskanzler in Deutschland: Reichstagsbrand, Judenboykott, Bücherverbrennung. »Wir alle schwanken zwischen Erstarrung, Panik und kurzzeitiger Beruhigung.« Juden wählen den Freitod, andere fliehen aus dem Land. Zusammenhänge lösen sich auf. In der Villa kommt es im Dezember 1933 aufgrund einer Diffamierung zu einer Hausdurchsuchung. Bereits Ende 1931 hat Ehefrau Braina verkündet: »Wir haben uns entschlossen, Deutschland zu verlassen.« Anfang Februar 1934 organisieren die Grüngards die Ausreise, verkaufen Möbel, geben die Villa zur Vermietung. Ja, sie sind privilegiert, das wissen sie. Sie verfügen zudem über schwedische Pässe, müssen als Ausländer keine Reichsfluchtsteuer zahlen. Viele Sachen aber können sie nur unter Wert verkaufen, weil sogenannte Arier die Notlage der Juden weidlich ausnutzen.

Im Frühjahr 1934 beziehen die Grüngards eine Fünf-Zimmer-Wohnung in Tel Aviv, mit Blick aufs Meer. 1951 stirbt Faivel Grüngard, seine Witwe Braina 1971.

Die 71-jährige Autorin und Literaturwissenschaftlerin Anat Feinberg hat die untergegangene Welt ihrer Großeltern zu neuem Leben erweckt, zugleich das Leben und die Kultur zionistischer Juden in Berlin vor Hitlers Machtübernahme. Sie erinnert an Adressen in der deutschen Hauptstadt, die vergessen sind. Wer weiß noch, dass der jüdische Schachweltmeister Emanuel Lasker im Bayerischen Viertel, in der Aschaffenburger Straße, wohnte? Wer, dass in der Charlottenburger Grolmannstraße 36 im Februar 1929 das Hebräische Volksheim gegründet wurde, »eine zentrale Stätte für die lebendige Entfaltung der hebräischen Bewegung«. Und wer, dass es ein »Palästina-Amt« in der Meinekestraße gab?

Blinde Flecken im Stadtgebiet bekommen hier Konturen. Dieses tief schürfende Buch sorgt für Aufklärung. Und offenbart dennoch in gewisser Weise auch Ohnmacht – bis heute.

Anat Feinberg: Die Villa in Berlin. Eine jüdische Familiengeschichte 1924 –1934. Wallstein, 232 S., geb., 26 €.

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