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Schluss mit der Erbsenzählerei
Berlins Sozialverbände fordern mehr Unterstützung durch den Senat
Der Beitrag, den die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, die Liga Berlin, für das soziale Miteinander in der Hauptstadt leisten, ist immens: Mit rund 100 000 hauptamtlichen und über 50 000 ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen stellt die Vereinigung einen der größten Arbeitgeber des Landes dar – ein politisches Schwergewicht.
Das weiß auch Berlins Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke), die sich am Dienstagmorgen zur Übergabe der Liga-Federführung vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin an den für die Hauptstadt zuständigen Ableger der Diakonie zu Wort meldet. Alle zwei Jahre wechselt die Federführung in der Liga. Gerade die auslaufende Periode, sagt Kipping, habe zunächst wegen der Corona-Pandemie eine große Herausforderung dargestellt: »Da galt es, Hygienepläne zu entwerfen und Regelungen zu finden für die Pflege, wo natürlich all die Einschränkungen eine besondere Härte dargestellt haben.«
Anschließend habe der Krieg in der Ukraine seine Wirkung gezeigt, die Energiekrise habe neue Herausforderungen für den sozialen Bereich mit sich gebracht. »Bei all diesen Krisen gerät in Vergessenheit, dass es bei Ihnen ja noch alltägliche Aufgaben gibt«, sagt die Linke-Politikerin und bedankt sich bei der Liga. Deren kritische Hinweise seien immer wieder Ansporn gewesen, sich in der eigenen Politik zu verbessern.
Kritik in Richtung Senat gibt es auch heute reichlich. Obwohl die Liga Berlin nach der nun endenden Leitung durch Gabriele Schlimper, der Geschäftsführerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, eine positive Bilanz zieht, bleibt viel zu tun. »Die Sachkosten und Energiekosten steigen für die Menschen in der Stadt«, sagt Schlimper. Man selbst habe mit steigenden Lebensmittelpreisen zu kämpfen, könne und wolle das aber nicht an die eigenen Klienten weitergeben. Zudem mangele es an Räumen für Beratungsstellen in der Stadt. Diese wiederum seien bitter nötig, denn die Nachfrage steige, während die Verbände selbst nur begrenzt Lösungen anbieten könnten. »Ich finde es gut, dass die Menschen wissen, wo sie bei dem Thema hingehen können, aber wir sind nun einmal nicht die Bauwirtschaft«, sagt Schlimper. »Wir können keinen Wohnraum schaffen.«
Schlimpers Nachfolgerin, die Vorständin des Diakonischen Werks Andrea Asch, beklagt eine »Abschottung der Behörden«: Rund 60 Prozent der Leistungsberechtigten in Berlin würden derzeit nicht abrufen, was sie eigentlich könnten, aus Scham oder aus Unwissen. »Da müssen überall die Alarmglocken läuten«, fordert Asch. Um die Menschen zu erreichen, müsse Schluss sein mit der »Erbsenzählerei im Zuwendungsbereich« der Berliner Verwaltung.
Die Folgen zeigten sich im Fachkräftemangel. »Wir sehen jetzt schon, dass uns ganze Bereiche wegbrechen«, sagt Asch. Die Beschäftigten nicht nach Tarifvertrag zu bezahlen und ihnen zeitlich befristete Arbeitsverträge zu bieten, könne man sich nicht länger leisten. Mitarbeiter*innen würden schlichtweg abgeworben, fehlten gerade im Bereich der Jugendhilfe, die an Umfang und Qualität einbüße. »Wir können noch nicht mal die bestehenden Angebote halten.«
Auch fordert Asch mehr Wertschätzung für die eigene Arbeit. Als Affront werde insbesondere die Berlin-Zulage empfunden, von der Angestellte im öffentlichen Dienst profitierten. »Sie erleben das als Kränkung«, sagt Asch. Man verrichte die gleiche anstrengende Arbeit wie die Kolleg*innen im öffentlichen Dienst. Viel eher solle das Geld in nachhaltige Strukturen gesteckt werden, auf die man sich verlassen könne. »Wir brauchen eine soziale Infrastruktur, die ihren Namen auch verdient.«
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