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Marokkanisches Märchen
Der Sieg im Achtelfinale gegen Spanien ist Ausdruck eines neuen Gemeinschaftsgefühls – und wird in vielen Teilen der Welt gefeiert
Ein Lob folgte dem nächsten, ein Dank dem anderen. Immer lauter, immer schneller sprach er – bis Marokkos Trainer Walid Regragui und Torwart Yassine Bounou, genannt Bono, auf dem Podium anfingen zu lachen und zu applaudieren, um den Moment aufzulösen. Andernfalls hätte sich ihr Landsmann, der gar keine Frage stellen wollte, wohl in eine unendliche Ekstase geredet nach dem 3:0-Sieg im Elfmeterschießen gegen den großen Favoriten Spanien.
Der kuriose Moment mit der Lobeshymne des Medienvertreters erzählte am Dienstagabend nicht nur viel über sein Berufsverständnis, sondern auch über die Bedeutung dieses marokkanischen Märchens, das am Sonnabend im Viertelfinale gegen Portugal seine Fortsetzung finden wird, auf welche Weise auch immer. Noch nie hatte ein Team aus dem arabischen Sprachraum bei einer WM die Runde der letzten Acht erreicht. Zudem ist Marokko die vierte Mannschaft aus Afrika im Viertelfinale – nach Kamerun 1990, Senegal 2002 und Ghana 2010. Nun also Marokko bei der WM in Katar, die erste in der arabischen Welt. »Wir können noch nicht wirklich begreifen, was wir erreicht haben. Aber wir sind glücklich«, sagte Bono. Der Torwart ist jetzt ein Held in seinem Land, er hatte zwei Elfmeter von Spanien pariert. Dort hütet er das Tor des FC Sevilla.
In Afrika und Arabien leben mehr als 1,5 Milliarden Menschen, Marokko hatte ein bisschen für sie alle gewonnen. Danach feierten auch Marokkaner in aller Welt. In Katars Hauptstadt Doha zu Zehntausenden, die aus dem Education-City-Stadion jubelnd und singend mit der Metro zum zentralen Souq Waqif, dem Markt, gefahren waren. Ein Marokkaner schnappte sich ein Megafon einer Wegweiserin und rief immer wieder in Anlehnung an die hier sonst vorgetragenen Durchsagen: »Morocco, this way. España, no way.« Auch Anhänger anderer arabischer Länder schlossen sich an, mehrfach war die Flagge Palästinas zu sehen. Neben vielen Freudenfesten in Marokko versammelten sich auch in zahlreichen europäischen Städten ebenfalls viele Menschen mit marokkanischen Wurzeln, um den größten WM-Erfolg in der Geschichte des Landes zu zelebrieren.
Der Erfolg hat viel damit zu tun, dass es Trainer Walid Regragui gelungen ist, marokkanische Fußballer aus aller Welt in kurzer Zeit zusammenzuschweißen – und damit auch die zerrissene Nation. Seit August ist der 47-Jährige erst im Amt. Mehr als die Hälfte der 26 Spieler in seinem WM-Kader ist nicht in Marokko geboren worden. Bono, der die Elfmeter von Carlos Soler und Sergio Busquets parierte, kam in Montreal zur Welt. Er besitzt auch die kanadische Staatsbürgerschaft und damit zwei Pässe, wie viele seiner Teamkollegen. Bei den weiteren 13 nicht in Marokko geborenen Spielern stehen in den Pässen europäische Geburtsorte in Belgien, den Niederlanden, Frankreich, Spanien und Italien.
Ein Beispiel: Der gegen Spanien eingewechselte Abdelhamid Sabiri wurde zwar in Marokkos Palmenoase Goulmima geboren, kam aber im Alter von drei Jahren nach Deutschland. Er wuchs in Frankfurt am Main auf und begann dort bei der TSG Frankfurter Berg mit dem Kicken. Später spielte Sabiri unter anderem für die TuS Koblenz, Darmstadt 98, die Sportfreude Siegen, den 1. FC Nürnberg und den SC Paderborn. Für das deutsche U21-Nationalteam machte er zwischen 2018 und 2019 fünf Spiele und schoss dabei ein Tor. Inzwischen steht er in Italien bei Sampdoria Genua unter Vertrag. Sabiri sprach nun von einem »speziellen Moment für ganz Afrika, die gesamte arabische Welt und alle Moslems«. Für die Nationalspieler sei es »der glücklichste Tag in unserem Leben«.
Auch ihr Trainer ist europäisch sozialisiert. Regragui wurde nahe Paris geboren und verbrachte seine Karriere als Abwehrspieler in Frankreich und Spanien. Als Trainer ging er nach Marokko. Nun hat er es in nur drei Monaten geschafft, aus dem Nationalteam ein Gefüge mit einer sehr gut organisierten Defensive zu formen, das in der Gruppenphase schon Kroatien und Belgien, den Zweiten und Dritten der WM 2018, hinter sich gelassen hatte. Jeder kämpft für jeden – und alle gemeinsam für das Land ihrer Wurzeln. »Vor dieser WM gab es immer Probleme mit den Spielern, die nicht in Marokko geboren wurden und denen, die in Marokko geboren wurden«, sagte Regragui, »heute haben wir der Welt gezeigt: Wir alle sind Marokkaner.«
Es ging in den Debatten ja immer um die Frage der nationalen Identität, darum, ob die in Europa geborenen Spieler mit dem marokkanischen Pass in der Heimat als echte Marokkaner wahrgenommen werden. Wie der frühere Dortmunder Achraf Hakimi, der in Spanien geboren wurde, hauptsächlich Spanisch spricht und kaum das in Marokko übliche Arabisch, berberische Tamazight oder Französisch. Dass so viele Marokkaner fernab der Heimat leben, liegt auch daran, dass es in anderen Teilen der Welt bessere Lebensumstände und Perspektiven gibt, trotz mittlerweile einiger Verbesserungen im Königreich.
Alltag und Probleme waren vorerst vergessen. Mit seinem frech gechippten Elfmeter zum entscheidenden Siegtreffer hatte Hakimi allen Marokkanern einen Moment größter Glückseligkeit und Einigkeit beschert. Ebenso wie Bono, der andere Elfmeterheld. Bei ihm war es umgekehrt: Er kam als Kind aus Kanada nach Marokko, spielte für Wydad Casablanca und verließ das Land mit 21 Jahren, als er zu Atlético Madrid wechselte. Auch das ist eine dieser vielen multikulturellen marokkanischen Geschichten, von denen dieser historische Dienstagabend erzählte.
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