»Einen Fuß drinnen, einen Fuß draußen«

Elisa Giustinianovich, Viviana Delgado und Alejandra Salinas über die Strategie nach der Niederlage beim Verfassungsplebiszit in Chile

  • Susanne Brust, Kiva Drexel, Martin Schäfer
  • Lesedauer: 9 Min.
Das privatisierte Rentensystem AFP in Chile sollte wie die neoliberale Verfassung aus der Diktatur durch eine progressive Verfassung ersetzt werden, doch das Plebiszit ging verloren.
Das privatisierte Rentensystem AFP in Chile sollte wie die neoliberale Verfassung aus der Diktatur durch eine progressive Verfassung ersetzt werden, doch das Plebiszit ging verloren.

Vor drei Monaten hat eine deutliche Mehrheit der Chilen*innen den Text für eine neue Verfassung abgelehnt. Das Ergebnis ist vor allem für soziale Bewegungen, die viel Zeit und Kraft in den verfassungsgebenden Prozess gesteckt haben, eine Enttäuschung. Wie erklären Sie sich das Ergebnis?

Interview

Viviana Delgado (l.) ist seit März 2022 Abgeordnete im neugewählten chilenischen Parlament und in der sozialökologischen Bewegung in Santiago de Chile aktiv. Alejandra Salinas (M.) ist unabhängige Stadtvertreterin von Maipú, einer Gemeinde im Großraum Santiago de Chile und Vorsitzende des Smapa-Ausschusses für die Kommunalisierung der Trink- und Abwasserversorgung. Elisa Giustinianovich (r.) ist Chemikerin, war gewählte Vertreterin im Verfassunggebenden Konvent und arbeitet in der Umwelt-NGO Ceres.

Elisa Giustinianovich: Uns haben drei Dinge gefehlt, die meiner Meinung nach den Ausschlag dafür gegeben haben, dass wir das Plebiszit verloren haben. Dem verfassungsgebenden Prozess fehlte es an Strukturen für die Beteiligung der Bürger*innen, für politische Bildung [der Bevölkerung] und ein Budget für etwas sehr Grundlegendes, nämlich eine Kommunikationsstrategie. Aus einer dringlichen Not heraus hatte die politische Elite damals dem Verfassungskonvent die Verantwortung für die Lösung jeglicher Probleme in Chile übergeben. Gleichzeitig hatte sie einen sehr kurzen, begrenzten Prozess unter klar definierten Regeln entworfen und sich damit die Hände reingewaschen. Aber in keinem Moment hat sich irgendeine staatliche Institution daran beteiligt, dass dieser Prozess auch funktionieren kann.

Viviana Delgado: In Maipú, wo ich lebe, hatten im ersten Plebiszit 86 Prozent der Menschen für eine neue Verfassung gestimmt – jetzt waren es nur noch 51 Prozent. Was war passiert? Im Wahlkampf sind wir in die ärmsten Viertel gegangen. Und es tat mir leid, den Menschen zu sagen: »Stimmen Sie für die neue Verfassung, sie wird ihr Leben verändern«, wenn sie mir die Tür öffneten und alles war voller Müll, das Wasser draußen grün und verfault – die Lebensumstände eben sehr schlecht. Sie haben uns gefragt: »Ist das hier Lebensqualität? Was bringt mir die neue Verfassung, wenn das hier das Leben ist, das mir die Regierung bieten kann?« Es gab viele solcher Begegnungen mit tief verzweifelten Nachbarn. Die Leute glauben an nichts mehr. 

Wie geht es Ihnen heute mit dem Ergebnis?

Alejandra Salinas: Das ist wirklich sehr kompliziert, auch wir waren zermürbt. Aber eines ist uns klar: Wir sind an der Wahlurne besiegt worden. Sie haben uns nicht weggeputscht, nicht ins Exil vertrieben, nicht umgebracht. Es war eine Wahlniederlage. Deshalb ist dieser Rückschlag nicht so hart, wie er aussieht. Denn wir haben trotzdem dazugewonnen, wir sind organisiert und wollen weitermachen.

Viviana Delgado: Als Abgeordnete verstehen wir die vergangene Abstimmung nicht einfach nur als Wahl. Ich denke, die Menschen haben uns damit eine letzte Chance gegeben, zu beweisen, dass wir tatsächlich etwas verändern können. Deshalb nehmen wir die Zustimmung zum Verfassungsentwurf trotz der Niederlage als Zeichen der Hoffnung.

Die politischen Parteien beraten über einen neuen verfassungsgebenden Prozess. Wie stehen Sie dazu? 

Elisa Giustinianovich: In diesen neuen institutionellen Prozess, der im aktuellen Parlament beraten wird, setzen wir keine Hoffnung. Der Kongress neigt derzeit stark nach rechts. Und wenn es Einigungen gibt, sind sie voller Begrenzungen, voller Verpflichtungen. Viele Organisationen denken deshalb darüber nach, nicht an einem zweiten Prozess teilzunehmen. 

Wieso?

Elisa Giustinianovich: Weil man nicht daran glaubt, dass er für Transformationsprozesse relevant sein könnte. Es gibt andere, die meinen, dass das doch etwas bringt, aber was wird passieren? Bei der starken Verzweiflung, die wir aktuell in Chile erleben, wird ein neuer Entwurf doch wieder abgelehnt. Unter den sozialen Bewegungen blicken wir auf eine andere Herausforderung, einen mittel- oder langfristigen Weg, ohne die auferlegten Begrenzungen, die eine Falle sein könnten. In diese Falle sind wir schon einmal getappt, denn man kann 30 Jahre Neoliberalismus nicht in einem einzigen Jahr zerlegen. Und der jetzt im Parlament diskutierte Verfassungsprozess soll unter Umständen sogar kürzer als ein Jahr dauern. 

Gibt es trotz der Ablehnung der Verfassung etwas, das Sie aus dem Verfassungsprozess mitnehmen werden?

Alejandra Salinas: Es gibt einen wundervollen Verfassungsentwurf! Von ihm muss unser zukünftiges Handeln ausgehen. Die sozialen Bewegungen wird das Rechazo (Ablehnung der Verfassung, d. Red.) nicht aufhalten. Wir setzen insgesamt wenig Erwartungen in den neuen Verfassungsprozess. Aber ich werde nicht zulassen, dass er vor meinen Augen vorbeizieht. Zumindest werden wir eine Opposition bilden, eine aktive Opposition, die auch etwas zu geben hat.

Wäre das neu?

Elisa Giustinianovich: Die Diktatur war, wie Sie wissen, äußerst brutal: Sie hat das gesamte soziale Gefüge mit Waffengewalt, Folter, Exil und Tod zerstört. In Chile gab es weder die Möglichkeit, eine linke Organisationskultur weiterzugeben, noch sie zu erben. Auch die Überlebenden der Diktatur haben das nicht getan, vielleicht aus Angst. Das alles ist erst mit meiner Generation geschehen. Vor zwei Jahren hatten wir weder eine landesweite Organisierung noch ein politisches Programm. Nun hatten wir zum ersten Mal die Möglichkeit, all diese Initiativen und Kämpfe in einem verfassungsgebenden Raum zusammenzuführen. Damit haben wir jetzt eine Grundlage, um weiter voranzukommen.

Wie wollen Sie jetzt ohne diesen verfassungsgebenden Raum weitermachen?

Elisa Giustinianovich: Früher haben wir nie danach gestrebt, institutionelle Räume zu besetzen, weil wir uns einig waren, dass diese Gewalt reproduzieren. Wir waren immer auf der Seite des Straßenprotests. Nach der Revolte erleben wir zum ersten Mal das Phänomen, dass die Organisationen diese Räume besetzen wollen. Wir haben mit Viviana eine wichtige soziale Aktivistin als Abgeordnete, mit Alejandra eine Umweltaktivistin als Gemeinderätin. Damit treiben wir den Wandel auch von innen voran. Das ist eine neue Erkenntnis, die in Deutschland anscheinend schon länger durchgesickert ist. Die Erkenntnis, dass es wichtig ist, immer einen Fuß in den Institutionen und einen Fuß draußen zu haben. 

Welche Konsequenzen ziehen Sie aus dem vergangenen Jahr für Ihre zukünftige Arbeit?

Alejandra Salinas: In der Kommunalverwaltung wollen wir sämtliche Möglichkeiten zur Verbesserung der Bildung stärken, das kann ich jetzt schon sagen. Und natürlich auch, was den Aspekt der politischen Bildung angeht, die es an chilenischen Schulen nicht gibt. Von dieser Seite aus kann man zumindest auf persönlicher Ebene etwas sehr Grundlegendes beeinflussen. 

Elisa Giustinianovich: Egal, wie oft du jedes Haus in Chile abgeklappert hast, um zu informieren, sei es auf der Nachbarschaftsversammlung oder auf der Straße. Den Leuten bleibt immer ein Zweifel: Und dann schalten sie den Fernseher ein und sofort kommt die Angst: »Das eine habe ich verstanden, aber das andere passt scheinbar nicht – dann stimme ich lieber dagegen.« Um für die neue Verfassung zu stimmen, musste man also Aktivist sein oder eine bestimmte politische Überzeugung haben. Oder man musste jeden Tag jemanden um sich haben, der einem die Zweifel und Bedenken abnimmt. Um gegen die Verfassung zu stimmen, brauchte man nur einen Fernseher.

Viviana Delgado: Das Fernsehen ist immer stärker als wir. Den reichsten Menschen in Chile gehört das Fernsehen, die gesamte Presse und die Radiosender. Es ist unmöglich, dagegen zu gewinnen. Falls wir jemals über die Mittel für einen bürgernahen Fernsehsender verfügen, dann werden wir meiner Meinung nach auch die Menschen erreichen. Ich bin in der Abgeordnetenkammer Mitglied der Kommission für Kultur. Wir haben dort die gesetzliche Anerkennung der comunicadores sociales (Anm. d. Red.: in ihrem Ort oder Stadtviertel bekannte Personen, die politische Kampagnenarbeit machen und dafür gegebenenfalls von Politiker*innen oder Gemeinden beauftragt werden) auf einer Stufe mit Journalist*innen erreicht. Ich denke, in diese Richtung müssen wir gehen, denn einen linken Fernsehsender zu etablieren, wird für uns vielleicht schwierig. Wir müssen also anfangen, unsere eigenen Netzwerke in den Kommunen und Regionen zu finanzieren und uns auf uns selbst zu verlassen.

Elisa Giustinianovich: Für mich läuft alles notwendigerweise auf die Gründung einer neuen politischen Organisation hinaus, die nicht nur zu Wahlen antritt, sondern den Text der abgelehnten Verfassung in ein politisches Programm überführt, das für breite Bevölkerungsschichten anschlussfähig ist. Das ist eine langfristige Aufgabe, aber es ist nicht schwierig: Denn was wir mit diesem Text erreicht haben, entspricht wirklich Dingen, die in Chile sehr gebraucht werden.

Ist das eine Schlussfolgerung, zu der auch die sozialen Bewegungen kommen?

Elisa Giustinianovich: Viele von uns Aktivist*innen sind schon zehn Jahre oder länger dabei, manche ihr ganzes Leben lang. Jetzt möchten wir zu einem formelleren politischen Engagement übergehen. Wir haben es schon geschafft, alle unsere Kämpfe breit zu verankern und ein Projekt für das Land zu entwickeln. Diesem können wir nur mit einer politischen Organisation gewachsen sein. Das kann eine neue linke Partei sein. Ich habe alle Lust, daran mitzuwirken.

Wie wären die Aussichten für eine solche Partei?

Elisa Giustinianovich: Man müsste darauf hinarbeiten, dass wir wirklich neue, maßgebliche politische Organisationen bekommen. Es gibt nämlich keine, die auf direkte Weise die vorhandenen Bedürfnisse kanalisieren könnten. Die Aktivist*innen dagegen erleben diese prekären Verhältnisse und verspüren diese Bedürfnisse tagtäglich. Sie können daher das politische System erneuern. Es wird nicht so schnell gehen, denn mit dem aktuellen Parlament – Viviana erlebt es Tag für Tag – ist es sehr schwierig, fortschrittliche Veränderungen zu erreichen. Daher denken wir an einen Zeithorizont von fünf bis zehn Jahren. Wahrscheinlich werden wir uns an den nächsten Wahlen beteiligen, aber es wird dann eher um die kommunale Ebene gehen. Vielleicht werden auch Kandidat*innen für das Parlament aufgestellt. Immerhin ist das Quorum für Verfassungsänderungen von zwei Dritteln auf vier Siebtel gesenkt worden, so dass es mir nun interessanter als zuvor erscheint, um Mehrheiten im Parlament zu kämpfen. Die wichtigsten politischen Themen sind dabei soziale Sicherheit, Bildung und Gesundheit. Das sind die Prioritäten.

Viviana Delgado: In der Abgeordnetenkammer bilden wir jetzt eine kritische Fraktion. Wir sind inzwischen zu fünft, was wenig klingt, aber fünf Stimmen sind in der Abgeordnetenkammer viel, weil die Mehrheitsverhältnisse zwischen dem linken und rechten Lager sehr knapp sind. Es sind also wir kritischen Abgeordneten, die mit unseren Stimmen den Ausschlag dafür geben können, wie Abstimmungen ausgehen. Und wir erweitern unsere Netzwerke. Somit können wir, wenn sie auf uns zukommen und unsere Stimmen haben wollen, Dinge aus dieser wunderbaren, abgelehnten Verfassung nehmen und sie in ein Gesetz verwandeln. Mit dem neuen Quorum von vier Siebteln wird das einfacher, denn wir brauchen nun weniger Stimmen. 

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