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Alles nur wegen der Mütze

Ein kleines Stück Stoff wurde zum Symbol für den Sieg der Favelas über Bolsonaro

  • Carsten Wolf, Rio de Janeiro
  • Lesedauer: 9 Min.
Isabell Pereira betreibt einen Kiosk im Complexo do Alemão. Sie mag die Mützen. Vor allem deshalb, weil "sie hier bei uns hergestellt werden. Und Arbeit bringen«.
Isabell Pereira betreibt einen Kiosk im Complexo do Alemão. Sie mag die Mützen. Vor allem deshalb, weil "sie hier bei uns hergestellt werden. Und Arbeit bringen«.

»Ich lag schon im Bett. Da kamen die ersten Nachrichten an«, erzählt Rene Silva. Alle paar Sekunden vibrierte sein Smartphone. Tweets, Posts, Chatnachrichten. Und immer wieder diese Lüge, er sei Drogendealer. Gangster. Absurd. Dazu besorgte Nachfragen von Freund*innen. Und Gewalt-Androhungen von Fremden. Rene Silva ist 28 Jahre alt und ein bekannter Aktivist für die Rechte von Favela-Bewohner*innen in Brasilien. Den ganzen Tag lang hatte er neben Ex-Präsident Lula da Silva auf der Bühne gestanden, bei dessen Wahlkampfauftritt in einer der größten Favelas von Rio, dem Complexo do Alemão. Und nun das. Das Netz quoll über von Lügen über Lula, über ihn und seinen Stadtteil.

»Und alles nur wegen der Mütze. Wegen der Abkürzung CPX.« Lula hatte an diesem Tag ein Basecap getragen, mit den drei Buchstaben darauf. Die Nichtregierungsorganisation Voz Das Comunidades, für die auch Silva arbeitet, hatte sie ihm überreicht. CPX – das steht für Complexo do Alemão, auf Deutsch: Hügel des Deutschen. Das ist eine Ansammlung von 13 Favelas im Norden der Stadt. Sie sind in Brasilien bekannt für Drogenhandel und blutige Polizeieinsätze. »Hügel des Deutschen« heißen sie, weil vor 100 Jahren hier ein polnischer Migrant das Land kaufte. Wegen seiner hellen Haut und blonden Haare nannten die Nachbar*innen ihn einfach »den Deutschen«.

Heute ist der Complexo ein wuseliger, lauter Stadtteil mit rund 70 000 Einwohner*innen. Es gibt kaum Bäume, es ist heiß, die Mittagssonne brennt. Kinder in Schuluniformen sind auf dem Weg nach Hause. An der Ecke stehen schwer bewaffnete Polizisten und essen ein Eis. So war es vermutlich auch an jenem Tag im Oktober, als Lula hier war.

Er besuchte den Complexo do Alemão im Wahlkampf. Tausende Menschen umringten seinen Lautsprecherwagen. Transparente und ein Meer aus roten Fahnen. Aus den Fenstern hielten junge Frauen stolz ihre Universitäts-Shirts – als Zeichen dafür, wie dankbar sie dem ehemaligen Präsidenten für seine Bildungspolitik sind. Da war er wieder. Der »Vater der Armen«, wie Lula lange genannt wurde. In einer emotionalen Rede sagte er den Favela-Bewohner*innen seine Unterstützung zu.

Jair Bolsonaros Unterstützer*innen erkannten, wie gefährlich diese Bilder für den amtierenden Präsidenten werden konnten. Und sie machten, was sie immer machten: Sie begannen, Fake News zu streuen. Sie twitterten, Lula besuche seine »Drogendealer-Freunde«, »seine CPX«. Die Abkürzung stehe gar nicht für »Complexo«, sondern für das brasilianische Wort für »Komplize«. Lula habe keinen Polizeischutz gehabt, weil er unter dem Schutz von mächtigen Drogendealern gestanden habe. Ein Schwarzer Schauspieler auf dem Selfie mit Lula sei auch ein Drogendealer.

Vier Jahre lang hatte Noch-Präsident Bolsonaro nur Verachtung übrig für die ärmsten Stadtteile von Rio. Vor seiner Wahl verlangte er, die Polizei solle mit Maschinengewehren in die Favelas schießen. Außerdem schlug er vor, arme Frauen zu sterilisieren, damit sie weniger Kinder bekommen. Nachdem er gewählt wurde, kündigte er an, dass Kriminelle in Favelas »wie Kakerlaken« sterben würden.

Und den Worten des Präsidenten folgten Taten der Polizei: Bei einem Massaker in der Favela Jacarezinho im Mai 2021 starben 29 Menschen – der tödlichste Einsatz in der Geschichte der Polizei von Rio. 23 Menschen starben im Mai 2022 in der Favela Vila Cruzeiro. 17 Menschen im Juli 2022 im Complexo do Alemão. Unter den Toten waren teils bewaffnete Drogendealer, aber auch viele Nachbar*innen, Kinder und Passant*innen. Und es gab noch viele weitere tödliche Polizeiaktionen. Meistens beglückwünschte Präsident Bolsonaro die Polizei – und verweigerte unbeteiligten Opfern die Anteilnahme.

Bei einer TV-Debatte kurze Zeit später wiederholte Bolsonaro die falschen Behauptungen, die seine Leute selbst gestreut hatten. Zu seinem Herausforderer Lula sagte er: »Da waren keine Polizisten in deiner Nähe. Nur Drogendealer.« Damit stellte er die Bewohner*innen des Complexo unter Generalverdacht. Und besonders Rene Silva – er hatte schließlich während des Besuchs direkt neben Lula gestanden.

»Wir entschieden uns, zurückzuschlagen«, erzählt Silva. Den ganzen nächsten Tag nach Lulas Besuch verbrachten er und seine Kolleg*innen damit, klarzustellen, dass Favelas nicht gleich für Drogenhandel stehen. Sie baten Unterstützer*innen um Hilfe. Sie sprachen mit Journalist*innen, die Faktenchecks machten. Immer mehr Politiker*innen, Promis und Rapstars zeigten sich im Netz mit der Mütze. Darunter die TV-Moderatorin Xuxa und später Formel-1-Star Lewis Hamilton. Das war der Beginn des Aufstiegs der CPX-Mützen.

Die Mützen sind zu einem Symbol in einer Zeit geworden, in der es so viele Tote wie noch nie durch Polizeieinsätze in den Favelas gab. Ein Grund: Bolsonaro zog die Bundespolizei für »militärische Operationen« in diesen Vierteln hinzu. Bei vielen Einsätzen veröffentlichten die Behörden nur noch die Zahlen der Toten, nicht mehr die der Festgenommenen. 2019 starben mehr als 1600 Menschen durch Polizeieinsätze in Rio – etwa fünf pro Tag. Das ergaben Forschungen des Geni-Projekts der Universität Federal Fluminense. Auch unter Lula hatte es viele Tote geben, aber das war ein trauriger Höchststand. Sogar die UN verurteilten die Polizeigewalt besonders gegen Schwarze und drängten auf Ermittlungen.

Das Gegenteil passierte aber. Seit einem Gesetz Bolsonaros von 2019 werden Militär-Polizist*innen für Verbrechen, die sie während ihrer Einsätze begehen, nicht mehr inhaftiert. Die Folgen sind verheerend. Gegen Polizist*innen gibt es faktisch keine Ermittlungen oder Strafen mehr. Es sei das Gesetz, das ihnen erlaubt, zu machen, was sie wollen, sagt Aktivist Silva. »Von da an schikanierten sie uns noch mehr. Wir hatten zwar nicht mehr jeden Tag Schießereien«, erzählt er, »aber dafür war die Polizei viel brutaler.« Zum Vergleich: Rio de Janeiro hatte 2021 mehr als 1200 Tote durch Polizeigewalt – mehr als die gesamten Vereinigten Staaten. Dort waren es etwa 1000. In Deutschland 15.

Bolsonaro verlor die Stichwahl Ende Oktober gegen seinen Herausforderer Lula knapp mit 49 Prozent. In den meisten Favelas von Rio verlor er dagegen deutlich. In der Favela Rocinha bekam er etwa halb so viele Stimmen wie sein Herausforderer Lula (64 zu 36 Prozent). Ärmere Menschen wählten überall häufiger Lula. Ein Grund für dieses Ergebnis war sicher auch die Verachtung des Präsidenten für die Favelas.

Bolsonaros Fake News zum Thema CPX wurden später auch gerichtlich verboten. Ein Bewohner des Complexo do Alemão hatte Bolsonaro beim obersten Wahlgericht angezeigt. Fünf Tage später veranlassten die Richter*innen die Löschung sämtlicher falschen Behauptungen zum Thema in den sozialen Netzwerken. Ein Riesenerfolg im Kampf der Bewohner*innen gegen die verächtlichen Sprüche des Präsidenten. Die Mütze wurde endgültig zum Symbol des Stolzes, der zurück ist in den Favelas, nach Jahren der Diskriminierung.

So sieht das auch die Anwohnerin Isabell Pereira. Sie betreibt einen Kiosk und wohnt schon seit 60 Jahren im Complexo. Sie kennt viele Drogendealer hier schon, seit sie Kinder waren. »Am Tag, als Lula hier war, war keiner von ihnen dabei.« Mit den falschen Behauptungen wollte Bolsonaro nur Lula schaden, sagt sie. Isabell hofft jetzt, dass es unter Lula besser wird. »Die vergangenen vier Jahre waren eine Katastrophe für mich. Es hat kaum noch jemand etwas gekauft.« In manchen Monaten reichte ihr Verdienst nicht, um sich genug Essen zu kaufen. Die Corona-Wirtschaftskrise hat Brasilien hart getroffen. Präsident Bolsonaro rühmte sich zwar, Lockdown-Maßnahmen verhindert zu haben. Aber der Preis war hoch: Etwa 700 000 Menschen sind in Brasilien an Covid-19 gestorben. Mehr waren es nur in den USA.

Bolsonaros Gewaltfantasien und -gesetze waren der schrillste Ausdruck einer gescheiterten Favela-Politik in Brasilien. Jahrzehntelang wurden Favelas entweder ignoriert oder abgerissen. Es gab keine Schulen, Krankenhäuser oder Polizeistationen für die Viertel. Dafür blühte der Drogenhandel. Erst in den Nullerjahren gab es ein Umdenken. Ab 2008 wurden die ersten Polizeistationen mit UPP-Einheiten in vielen Favelas eingerichtet. Auch der Complexo do Alemão wurde damals mit Hubschraubern und Panzern »zurückerobert«. Die Bilder gingen um die Welt.

Über das, was danach kam, wurde wenig berichtet. Die Gewalt ging zurück. Der sichtbare Drogenhandel auch. Aber statt großflächig in Favelas zu investieren, kürzte die Stadtverwaltung die Mittel für die Polizeistationen. »Der Staat hat die UPP-Polizist*innen hier im Stich gelassen«, sagt Aktivist Silva.

»CPX« und Lulas Besuch in der Favela gehörten zu den Top-3-Themen im gesamten Wahlkampf. Dass Lula am Ende gewann, lag auch an seinem Auftritt im Complexo do Alemão. Und dem Kampf der Favela-Aktivist*innen und -Bewohner*innen an den Tagen danach. Sie organisierten auch eine Hilfsaktion. Wer eine Mütze wollte, sollte einer Favela-Familie einen »cesta basica« spenden – einen Korb mit Grundnahrungsmitteln für einen Monat. »Wir haben 2500 Mützen verschickt«, sagt Silva stolz. Ein Riesenerfolg. Das reicht, um 200 Familien ein Jahr lang satt zu machen.

»Was ich das Beste an den Mützen finde«, sagt Anwohnerin Isabell, »ist, dass sie hier bei uns hergestellt werden. Und Arbeit bringen.« Über die Spendenaktion hinaus profitiert auch die Textil-Werkstatt, aus der die Mützen kommen.

Drei Stickmaschinen, ein Plastikstuhl, ein Ventilator. Das ist der Arbeitsplatz von Marcelo Junior. In der Favela-Werkstatt sind die Wände unverputzt. Vor dem Fenster kräht ein Hahn. An einem klapprigen Rechner gibt Marcelo gerade die Muster ein. Mit einem USB-Stick bringt er sie zur Maschine. Und die stickt los. Zwei Minuten für eine Mütze. Zehn Stunden, ohne Pausen. Denn es geht hier nicht nur um Mützen. Es geht auch um den Stolz der Favela.

»Wir kommen kaum noch hinterher mit der Produktion«, erzählt Marcelo, der Chef der Textilfirma JR Bordados. »In den vergangenen Wochen hatten wir Bestellungen aus Deutschland, England, Italien – und natürlich aus ganz Brasilien.« Auch für Marcelo stehen die Mützen für den Kampf gegen alle Vorurteile, die Menschen aus Favelas jeden Tag erleben.

Außerdem konnte er sein Geschäft ausbauen: Früher hatte seine Firma zwei Angestellte. Inzwischen sind es acht. 500 Mützen schaffen sie inzwischen am Tag. Durch diesen Erfolg kann seine Firma nun auch größere Aufträge von anderen Kund*innen annehmen. Gerade besticken die Maschinen Kostüme zum Karneval im kommenden Jahr. Eine Erfolgsstory made in Rio. »Sie steht dafür, dass wir Favela-Bewohner*innen keine Gangster sind«, sagt Marcelo, »sondern dass wir hart arbeiten, um etwas zu erreichen.«

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