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Warum ausgerechnet Algen?
Berliner Start-up Vyld will mit »Tangpons« aus Meeresalgen auf den Markt bringen
Ines Schiller betritt den winzigen Raum im Hinterhof eines ehemaligen Pferdegehöfts in Berlin-Rixdorf. »Das ist unser Reich«, sagt sie belustigt. Ihre violettblauen Haare glänzen besonders an diesem grauen Novembernachmittag und bringen etwas Licht in das zum Büro umfunktionierte Zimmer, das mit einem einzigen Fenster versehen ist. An den Wänden hängen Fotos, ein Jahreskalender mit bunten Klebezetteln, Bilder mit marinen Motiven und ein Schal mit der Aufschrift »alles ist punk« – einem Zitat aus dem Song »Morgens pauken« der Berliner Band Die Ärzte. Ines Schiller schenkt Tee ein und stöbert kurz im Regal. Sie will zeigen, was sie und ihre Geschäftspartnerin Melanie Schichan auf dieser gerade mal vier Quadratmeter großen Fläche konzipiert haben. Wenig später hält sie grinsend einen Tampon in der Hand.
»Man würde vielleicht nicht denken, dass da viel Technology drinsteckt«, kommentiert Schiller und schiebt dann selbstbewusst hinterher: »Tut es aber.« Der besagte Tampon sieht in der Tat nicht außergewöhnlich aus: Er ist zylinderförmig, weiß und in einer durchsichtigen Hülle verpackt. Doch er besteht nicht wie sonst aus Baumwolle und Viskose, sondern vollständig aus Algen. »Tangpon« nennt ihn Ines Schiller – eine Wortschöpfung aus »Seetang« und »Tampon«.
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Tampons aus Meeresalgen herzustellen, ist die Mission von Vyld, dem von Ines Schiller 2021 gegründeten Start-up. Die 36-Jährige aus Coburg sieht darin eine »radikal nachhaltige« Alternative zu herkömmlichen Tampons. So praktisch Letztere auch sind, verursachen sie als Einwegprodukte eine große Menge Müll, der zum Teil im Meer landet. »90 Prozent der Tampons auf dem Markt enthalten Plastik. Das betrifft sogar manche Bio-Tampons«, erklärt Schiller. Diese Plastikanteile belasten nicht nur die Umwelt, sondern können durch den direkten Kontakt mit der Schleimhaut auch der Körpergesundheit schaden. Baumwolle sorgt ferner bei vielen Menstruierenden für ein unangenehmes Trockenheitsgefühl oder gar Irritationen und deren Anbau verbraucht viel Wasser.
Warum aber ausgerechnet Algen? »Das macht einfach total Sinn«, sagt Schiller mit Nachdruck. Sie steht auf und nähert sich dem Seil, das mitten im Raum gespannt ist und an dem getrocknete Braunalgen, eine ausgesponnene Algenfaser und ein paar Tampons hängen – quasi alle Produktionsschritte auf einen Blick. Während sie die seidenweiche Faser streichelt, erklärt die Vyld-Gründerin, dass Algen höchst absorbierend und entzündungshemmend wirken, weshalb sie schon lange im medizinischen Bereich verwendet werden, zum Beispiel als Wundauflagen.
Bisherige Labortests hätten ferner gezeigt, dass die aus dem Algenextrakt gewonnene Faser das Einführen erleichtert, Schleimhäute nicht austrocknet und das vaginale Mikrobiom nicht beeinträchtigt. »Und wir müssen sie nicht bleichen, denn das Polymer ist von Natur aus weiß. Das ist ein glücklicher Zufall«, fügt Schiller begeistert hinzu. Dann zeigt sie auf den fertigen Tampon: »Der ist komplett biologisch abbaubar, am Land und im Wasser – in etwa sechs Wochen.«
Ines Schiller hat eigentlich Philosophie und Neurowissenschaften studiert. Die akademische Welt sei ihr aber zu realitätsfern gewesen, erinnert sie sich. So zog sie nach dem Studium an die Filmhochschule Babelsberg, wo sie Kinofilme produzieren und schreiben lernte. Später war sie an der Organisationsentwicklung des Vereins »Mein Grundeinkommen« beteiligt. Irgendwann verstand sie, dass sie sich dem widmen wollte, wofür ihr Herz wirklich schlägt: Tiere und Umwelt. So wechselte Schiller, die selbst »seit hundert Jahren« vegan ist, in eine Firma, die Fisch auf Zellbasis herstellt. Auch absolvierte sie eine Ausbildung zum Marine-Guide in Südafrika, die ihr den Anstoß gab, Vyld zu gründen. Denn dort entdeckte Schiller, dass Algen viel mehr als nur ein nährstoffreiches Superfood sind: »Sie sind nicht nur nicht schädlich, sondern wirken sich regenerativ auf das Ökosystem aus«, sagt sie.
Algen können zum Beispiel Stickstoff, der etwa aus Dünger kommt, binden und somit das Meer reinigen sowie als Wellenbrecher dienen, Erosionsprozesse abmildern und Habitat für viele Tierarten bieten. Außerdem wachsen sie bis zu zehnmal schneller als Landpflanzen – ganz ohne Trinkwasser, Dünger oder Pestizide. »Natürlich kann man auch Algen nicht nachhaltig anbauen, aber sie machen es uns ganz leicht, die Fehler der landbasierten Landwirtschaft nicht zu wiederholen«, sagt Schiller. Doch derzeit werden 97 Prozent aller kultivierten Algen aus Asien importiert. In Europa werden sie meist noch wild eingesammelt. Mit Vyld setzt sich Schiller dafür ein, dass sich auch hier Farmen etablieren. »Wir werden aber nicht anfangen, selber Algen für Tampons anzubauen«, präzisiert sie. Vielmehr möchte Vyld mit Akteuren zusammenarbeiten, die sich auf eine kontrollierte Algenzucht spezialisieren. Da ist Schiller zuversichtlich: »Eine ganze Bewegung ist gerade im Entstehen. Und das Spannende ist, dass die meisten Farmer*innen in der Algenbranche Frauen sind.«
Schiller geht es auch darum, zu vermitteln, dass Umweltschutz, Menstruations- und Geschlechtergerechtigkeit sowie nachhaltiges Wirtschaften zusammengehören: »Wir können noch so viele plastikfreie Shampoos auf den Markt bringen, aber wenn wir die Strukturen nicht ändern und verhindern, dass trotzdem drei weiße Männer davon reich werden, kommen wir nicht weiter.« Deswegen wird Vyld im Veranwortungseigentum geführt. Es gebe zwar Investoren, die für das eingegangene Risiko kompensiert werden, aber Gewinne würden so weit wie möglich in das Unternehmen investiert. »Und Vyld gehört sich selber«, erklärt Schiller.
Vyld ist das erste Unternehmen weltweit, das sich die Eigenschaften von Algen für die Herstellung von Menstruationsprodukten zunutze machen möchte. Warum kam noch niemand auf diese Idee? Das hat Schiller große Player wie Johnson & Johnson gefragt. »Die Antwort ist simpel wie profan: Sie mussten es einfach nicht«, erklärt sie. Die Branche sei lange preisgesteuert gewesen. Nachhaltigkeit sei erst in den letzten Jahren überhaupt relevant geworden. Menstruierende selbst hätten mangelhafte Periodenartikel lange nicht hinterfragt, meint Schiller: »Auch ich habe eine ganze Weile einfach hingenommen, dass Bio-Tampons manchmal auslaufen und fusseln.« Erst durch die Gründung von Vyld wurde ihr klar, dass es eine große Kluft gibt zwischen dem, was Menstruierende brauchen und sich wünschen, und dem, was Produkte auf dem Markt bieten können.
Auch der Status der Produkte könnte dazu beigetragen haben, dass Algen zwar im medizinischen Bereich verwendet werden, bislang aber noch nicht für Tampons oder Binden. »Obwohl sie gesundheitsrelevant sind, werden Menstruationsprodukte in Europa nicht als medizinische, sondern als Hygieneprodukte klassifiziert – wie Taschentücher und Klopapier.« Was an sich auch ziemlich problematisch sei: »Menstruationen sind nun mal nicht unhygienisch«, kritisiert Schiller. Vyld verstehe sie gerade auch als Mittel, um Perioden zu normalisieren, über das Thema aufzuklären und Menstruierende zu empowern.
Mittlerweile befinden sich auch alternative, nachhaltigere Produkte auf dem Markt, wie etwa Menstruationstassen und Periodenpantys. Doch Schiller ist davon überzeugt, dass Einwegprodukte wie Tampons weiterhin unabdingbar sind: »Nicht alle können aus anatomischen Gründen Tasse tragen. Außerdem braucht man bei Tassen und Pantys unbedingt Zugang zu fließendem Wasser, um sie zu reinigen.« Obdachlose Menschen etwa haben das nicht unbedingt.
Algentampons sollen auch im stationären Handel erhältlich sein. »Online-Abos sind zwar schön, aber wir wollen, dass Algen in der normalen Welt ankommen«, betont Schiller. Zwar gibt die 36-Jährige zu, dass Tangpons zunächst übergangsweise teurer als konventionelle Tampons sein werden. »Das liegt aber nur daran, dass sie noch entwickelt werden müssen. Tangpons sollen kein Luxusprodukt werden«, versichert Schiller. Auch hofft sie, dass alle Menstruationsartikel bald kostenfrei sein werden.
Idealerweise sollen Tangpons hundertprozentig aus Algen bestehen – samt Bändchen, Hüllvlies und Verpackung. »Aber wir gehen da nicht dogmatisch vor. Wir wollen die nachhaltigste Variante mit dem bestfunktionierenden Produkt«, sagt Schiller. Noch zu klären ist auch, ob Vyld selbst Tangpons produziert oder eher anderen Herstellern die Algenfasern liefern wird.
Langfristig will Vyld auch weitere Artikel aus Meeresalgen produzieren, etwa Binden, Windeln und Inkontinenzwäsche. »Algaeverse« nennt Schiller ihre Vision. Doch erst mal geht es noch darum, die Entwicklung der Tangpons voranzubringen. Erste Prototypen sollen Menstruierende Anfang 2023 testen dürfen. Schillers Aufregung ist deutlich zu spüren: »Bisher haben wir nur Labortests durchgeführt. Dank einer Crowdfunding-Kampagne werden wir bald endlich erfahren, wie Menstruierende unsere Tangpons finden.«
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