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Die Natur als Dienstleister

Vom Versuch, Ökosysteme mit einem Preis zu versehen und dadurch zu schützen

Im kanadischen Montreal treffen sich derzeit Delegierte zur 15. Weltnaturkonferenz. Ihr erklärtes Ziel ist der Erhalt der Vielfalt von Arten und Ökosystemen. Diese Vielfalt ist bereits erheblich dezimiert worden, alle bisherigen Vereinbarungen zu ihrem Schutz sind gescheitert. Wesentliche Ursache dafür ist die herrschende Wirtschaftsweise, die die Natur als rentable Ressource nutzt. Dies soll aber nicht gegen die betriebswirtschaftliche Kalkulation sprechen. Vielmehr soll die Natur in diese Kalkulationen integriert werden – indem man ihr einen Preis gibt. Der marktwirtschafliche Ansatz zur Kapitalisierung von Tieren, Pflanzen und Lebensräumen hat weitreichende Folgen.

Laut World Wildlife Fund (WWF) »schreitet das Artensterben in erschreckender Geschwindigkeit voran. Wir haben bereits die Hälfte der weltweiten Korallen verloren und jede Minute werden Waldökosysteme mit einer Fläche von 27 Fußballfeldern vernichtet.« Die Weltnaturkonferenz müsse nun »messbare Ziele« zum Biodiversitätsschutz beschließen.

Weltnaturkonferenz

Eines der Hauptziele der laufenden 15. Weltnaturkonferenz ist es, mindestens 30 Prozent der Land- und Meeresflächen weltweit unter Schutz zu stellen. Die Zeit drängt: Laut Weltbiodiversitätsrat (IPBES) existieren derzeit noch mindestens acht Millionen Arten. Bis 2030 könnten davon aber bis zu eine Million aussterben. Schon jetzt stirbt umgerechnet alle zehn Minuten eine Art. Ein Drittel aller Insektenarten droht, für immer zu verschwinden. Die Biodiversität schrumpft.
Biodiversität umfasst die gesamte biologische und genetische Vielfalt aller Lebewesen und Ökosysteme auf unserem Planeten: Säugetiere und Pflanzen, Pilze und Mikroorganismen, Ökosysteme wie die Antarktis, den tropischen Regenwald und Mangrovenwälder. Diese Systeme produzieren Wasser, Nahrung, saubere Luft, aber auch Arzneimittel. Insekten bestäuben Pflanzen, wovon viele Obst- und Gemüsesorten abhängig sind. Mangroven schützen Nahrungspflanzen vor Hochwasser. Der Erhalt der Ökosysteme wiederum hängt vom Zusammenspiel der Artenvielfalt ab. Mit dem Aussterben von Arten sind viele Funktionen der Ökosysteme bedroht.
Als wesentliche Ursachen für das Artensterben machen Wissenschaftler*innen die Landwirtschaft, aber auch die Flächenversiegelung im Zuge der Ausbreitung der Städte verantwortlich. Weitere Faktoren sind die Rodungen von Wäldern, Überfischung, das Einbringen von Giftstoffen in die Natur sowie die Verbreitung invasiver Arten durch den Menschen. Eine bedeutende Rolle spielt auch der Klimawandel.  nd

An Zielen hat es bisher nicht gemangelt, allerdings werden sie seit 20 Jahren nicht eingehalten. So ist laut WWF »der strategische Plan 2011-2020 des Übereinkommens über die biologische Vielfalt beinahe vollständig verfehlt worden«. Dies liegt wesentlich an der Rolle der Natur in der herrschenden Wirtschaftsweise. Sie dient als kostengünstige Abfalldeponie, als rentable Quelle von Ressourcen – oder sie steht lohnenden Investitionen schlicht im Weg und wird daher zerstört. »Die Wertschöpfungsketten der meisten großen Wirtschaftsbranchen tragen zum Verlust von Biodiversität bei«, so Vicky Sins von der World Benchmarking Alliance, einem Dachverband von Organisationen, die sich global für die Erreichung der UN-Millenniumsziele stark machen.

Für Unternehmen und Staaten bedeutet der Schutz der Biodiversität zum einen zusätzliche Kosten, zum anderen entfallende Gewinne und Wachstumsraten, weswegen er bislang stets als zu teuer gilt. »Mangelnde Finanzierung ist die Achillesferse jedes ambitionierten globalen Plans zum Artenschutz«, so der WWF.

Kapitalismus zerstört Natur – diese Problemdefinition lassen Ökonom*innen aber nicht gelten. Schuld sei vielmehr mangelnde »Achtsamkeit« gegenüber der Umwelt, so der indische Ökonom Partha Dasgupta, der dieses Jahr die Studie »The Economics of Biodiversity« für das britische Finanzministerium erstellt hat. Laut Dasgupta »haben wir das Naturvermögen durch Rohstoffgewinnung, Bodennutzung und Abfallentsorgung überstrapaziert«. Es sei an der Zeit, diese »natürlichen Assets« besser zu managen. Dafür müsse die Natur in das ökonomische Denken integriert werden – indem man ihr einen Preis gibt, analog zum Preis für die Emission von CO2.

Wie man Natur zu Kapital macht

Ökonom*innen aus der ganzen Welt versuchen seit Jahren, Pflanzen, Tierarten und Ökosystemen einen in Geld messbaren Wert zu geben. Die UN einigte sich 2021 auf einen statistischen Rahmen, der die Beiträge von Feuchtgebieten, Wäldern, Ozeanen bei der Berechnung der Wirtschaftsleistung besser berücksichtigen soll. Zu diesem Zweck wird der Nutzen der Natur als eine Dienstleistung konzipiert und mit einem Preis versehen.

Gemäß dieser Logik errechnete vergangenes Jahr eine Studie der University of California und des US Geological Survey, dass die Korallenriffe vor Hawaii und Florida rund 1,8 Milliarden US-Dollar an jährlicher Leistung brächten, indem sie Überflutungen und so Schäden an küstennahen Immobilien verhinderten. Das wertvollste Riff liege vor Honolulu und komme auf Erträge von 154,3 Millionen US-Dollar. Jeder Meter, den die Riffe verlören, bedeute zusätzliche Immobilienschäden von 5,3 Billionen US-Dollar.

Britische Forscher haben sich eines Walds inklusive Torfmoor nahe Loch Ness angenommen. Mit Drohnen, Kameras, Tonaufnahmen und anderem untersuchen sie die Landschaft, unter anderem den Wasserstand. Daraus schließen sie, wie Renaturierungsmaßnahmen wirken auf die Verhinderung von Fluten, auf die Qualität des Wassers und die Speicherung von Kohlenstoff. Diese Vorgänge im Torfmoor werden anschließend in Geldleistungen umgerechnet: Nach dem ersten Jahr bilanzierten die Forscher 20 700 US-Dollar ökonomischen Ertrag aus der Kohlenstoffspeicherung und 8100 US-Dollar aus der Regulation der Luftqualität.

Nicht nur Ökosysteme werden bilanziert, sondern auch Tiere. Der Wert Blütenbestäubung durch Insekten wird weltweit auf 180 bis 500 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschätzt. Haie bieten der Tourismuswirtschaft jährliche Erträge von 940 Millionen Dollar. Elefanten nützen nicht nur dem Tourismus, ihre Körper speichern auch Kohlenstoff, was die globale Erwärmung und so wirtschaftliche Schäden des Klimawandels mindert. Das ist laut Berechnungen 1,8 Milliarden Dollar pro Jahr wert. Andere Rechnungen beziehen sich auf das genetische Material von Tieren und Pflanzen, das künftige Erträge für die pharmazeutische Industrie verspricht und daher erhalten werden muss.

Zwar sind all diese Berechnungen mit großen Unschärfen belastet, Studien kommen zu unterschiedlichsten Ergebnissen, die den Wert des Ökosystems irgendwo zwischen 30 und 150 Billionen US-Dollar ansetzen. Aber, so der Ökonom Gupta, es gehe ums Prinzip: »Indem wir den Dienstleistungen des Ökosystems einen Preis geben, können wir sicherstellen, dass die Natur – oder besser: das Naturkapital – eine Rolle bei den Verhandlungen der Entscheider spielt.«

Ziel der Bepreisung ist erstens, die Schädigung der Natur zu einem Kostenfaktor zu machen, dessen Vermeidung sich lohnt. Das Weltwirtschaftsforum in Davos schätzt, dass 44 Billionen US-Dollar an ökonomischer Wertschöpfung im Jahr stark oder moderat von der Natur und ihren Leistungen abhängig sind. Laut WWF »kann jeder Euro, der in die Wiederherstellung der Natur investiert wird, das bis zu 30-fache an wirtschaftlichem Nutzen mobilisieren. Schätzungen zufolge könnte die Umgestaltung zu einer nachhaltigen Wirtschaft ohne Naturzerstörung jährlich bis zu 10,1 Billionen Dollar an Wirtschaftswert erzeugen.«

Verursacher werden zu Opfern

Aus Sicht der Ökonom*innen sind damit Kapitalismus und Natur erfolgreich vereint. Allerdings hat der Versuch, die Natur durch ihre Kapitalisierung zu schützen, einige weitreichende Folgen. Als erstes für die Problemdefinition: Naturzerstörung gilt nicht länger als logische Folge der kapitalistischen Produktion und ihres permanenten Wachstums, sondern als marktwirtschaftlich ineffizient. Von den Verursachern des Artensterbens werden die Konzerne so zu seinen Opfern – und anschließend zu den Rettern der Umwelt, die die Biodiversität durch Investitionen erhalten. »Klimaschützerinnen«, schließt daraus Alexander Neubacher im »Spiegel«, sollten daher »nicht gegen den Kapitalismus demonstrieren, sondern dafür«.

Zudem werden Ozeane, Wälder und Tiere mit ihrer Bepreisung nicht bloß »wirtschaftlich berechenbar«, sie werden integriert in die kapitalistische Kalkulation mit Kosten, Erträgen und Profiten. Schützenswert wird die Umwelt nur, insofern ihre Zerstörung Kosten verursacht und das Wirtschaftswachstum schädigt. Aus dieser Perspektive folgen drei Bedingungen, wann und inwiefern das Klima überhaupt geschützt wird: Erstens ist der Schutz der Ökosphäre erst dann rational, wenn die Kosten ihrer Schädigung die Kosten ihres Schutzes übersteigen. Ob das Ergebnis dieser Kalkulation stets den Notwendigkeiten von Ökosystemen entspricht, steht in den Sternen.

Zweitens werden grundsätzlich nur jene Teile der Natur geschützt, die verwertbar sind und deren Schädigung daher Geld kostet. Welche Kosten für den Umweltschutz akzeptabel sind, hängt also vom Wert der durch die Umweltzerstörung bedrohten Arten und Ökosysteme ab. Oder anders: Die Politik ist mit der Frage konfrontiert, wie viel Klimaschutz sie sich leisten will. Und das kann mit den Konjunkturen schwanken. So mag Naturverbrauch zwar einen Preis erhalten. Doch in Zeiten der Hochkonjunktur wird er unter Umständen gern gezahlt, weil er sich lohnt. In Zeiten der Krise wiederum gerät der Naturschutz in direkten Gegensatz zum Wachstum. So mahnte der Deutsche Industrie- und Handelskammertag 2020, angesichts der Coronakrise müsse auf »zusätzliche finanzielle Belastungen« durch striktere CO2-Ziele verzichtet werden.

Da sich mit der Bepreisung der Natur weder an der Profitlogik noch am Wachstumszwang etwas ändert, bleibt der Anreiz zur Naturzerstörung, indem man die Natur billig rechnet. So wurden die »Gesellschaftlichen Kosten des Kohlenstoffs« in den USA vor 20 Jahren regierungsoffiziell mit 21 Dollar je Tonne angesetzt. Unter Donald Trump wurde der Wert auf ein bis sieben Dollar reduziert.

Drittens beginnt für jene Ökosysteme und ihre Bewohner, die als schützenswert anerkannt werden, damit nicht das gute und gesunde Leben. Denn geschätzt und geschützt werden sie nur gemäß dem ihnen zugeschriebenen Wert – und der ist im reichen globalen Norden tendenziell höher als in armen Ländern. So kosteten Naturkatastrophen im ersten Halbjahr 2022 in Afghanistan 1200 Menschen das Leben, der ökonomische Verlust war allerdings gering. In den USA beliefen sich die Schäden dagegen auf 28 Milliarden Dollar und damit auf das Doppelte der afghanischen Wirtschaftsleistung. Die Natur in den USA ist damit deutlich wertvoller und schützenswerter.

Wie immer, wenn es um Preise geht, sind die Wohlhabenden besser gestellt als die Armen. Dem globalen Süden den Schutz seiner Biosphäre abzukaufen, bleibt ein Privileg der reichen Länder – und in diesen reichen Länder ein Privileg der reichen Personen. Das globale Gesamtvermögen beträgt über 460 Billionen US-Dollar. »Für das reichste eine Prozent, welches knapp die Hälfte dieses Vermögens besitzt, wäre das Ökosystem ein wahres Schnäppchen«, merkt der Philosoph Oliver Schlaudt an. »Nur leider sind Ökosysteme zurzeit nicht im Angebot.«

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