»Der Krieg muss sofort aufhören«

Vladimir Budaev über die Flucht vor der Mobilisierung und die Forderung nach einer Dekolonialisierung Russlands

  • Sophie Tiedemann
  • Lesedauer: 6 Min.
Russland – »Der Krieg muss sofort aufhören«

Sie sind Burjate, also ein Angehöriger der größten nationalen Minderheit in Sibirien. Sie sind in Russland aufgewachsen und leben mittlerweile im Exil in den USA. Wie kam es dazu?

Interview

Vladimir Budaev unterstützt Burjat*innen, die vor der russischen Teilmobilmachung in die benachbarte Mongolei oder nach Kasachstan fliehen. Durch Proteste und Kundgebungen macht er zusammen mit seinem Freundeskreis auf die Geschichte der Kolonialisierung der ethnischen Teilrepubliken in Russland aufmerksam.

Als ich noch in Russland gelebt habe, hat sich meine Mutter dort politisch in der Opposition engagiert. Ich bin also schon Kreml-kritisch aufgewachsen. Im Jahr 2012 führte Putin dann das Gesetz über ausländische Agenten ein, mit dem die Repressionen vor allem gegen Menschen zunahmen, die auf irgendeine Weise politische Kontakte ins Ausland pflegten. Eines Abends ging sie also von der Arbeit nach Hause und wurde von zwei russischen Geheimdienstlern auf der Straße angehalten. Sie sagten: »Entweder du verlässt sofort das Land, oder wir schicken dich wegen Verrats für 24 Jahre ins Gefängnis.«

Also sind Sie geflohen?

Genau. Ich packte meinen Koffer, nahm meine Katze mit und zog in die USA. Ich weiß noch, dass ich mich ärgerte, weil ich so viel für das Abitur gelernt hatte – alles umsonst. In den Jahren darauf studierte ich und baute mir ein neues Leben auf: bis zum 24. Februar 2022, dem Tag der russischen Invasion in der Ukraine. In den ersten Tagen, die auf die Invasion folgten, ging ich regelmäßig zur russischen Botschaft hier in Washington D.C. und protestierte. Ich fuhr auch in umliegende Orte, um an Demonstrationen und Kundgebungen teilzunehmen. Aber ich merkte, dass es nicht reichte – also traf ich mich mit burjatischen Freund*innen, die ebenfalls im Exil leben, und wir entschieden uns, gemeinsam ein Video zu drehen.

Wie ging es von da aus weiter?

Wir wollten zeigen, dass viele von uns Burjat*innen diesen Krieg nicht unterstützen. Also versammelten wir uns innerhalb unseres Freundeskreises und starteten eine Kampagne: »Burjaten gegen den Krieg«. Zuerst nahmen wir also besagtes Video auf, in dem wir die russische Invasion verurteilten und uns gegen den Krieg positionierten. Wir dachten, darauf würde es keine Resonanz geben. Auch die Menschen in Burjatien sind ja schließlich der Propaganda des Kreml ausgesetzt. Tatsächlich bekamen wir aber sehr viele Zuschriften, in denen Menschen uns fragten, wie es jetzt weitergehe mit der Kampagne. Also fingen wir an, immer mehr Videos zu drehen, in denen wir verschiedene Burjat*innen vorstellten und interviewten, die sich gegen diesen Krieg positionieren. Als die Videos schließlich eine gewisse Reichweite erreicht hatten, fragten uns sogar andere ethnische Minderheiten aus unseren Nachbarrepubliken, ob wir auch mit ihnen Videos aufnehmen könnten. Gleichzeitig spitzte sich die politische Lage in Russland immer weiter zu und wir realisierten, dass Burjaten unsere Hilfe brauchten: Viele von ihnen wollten nicht kämpfen, aber wussten nicht, wie sie dem Wehrdienst entkommen könnten.

Mittlerweile bieten Sie Wehrdienstverweigerern Unterstützung an.

Genau, wir fingen an, sowohl Menschen, die schon eingezogen worden waren, juristisch zu unterstützen und zurück in ihre Heimatstädte zu bringen, als auch denen Beistand zu leisten, denen die Einberufung in die Armee drohte. So wurde aus unserer anfänglichen Antikriegskampagne eine richtige Organisation. Wir haben eine juristische Abteilung, die Soldat*innen dabei hilft, bereits geschlossene Verträge mit der Armee zu kündigen und eine drohende Mobilmachung zu umgehen. Außerdem unterstützen wir Menschen ganz konkret bei ihrer Ausreise nach Kasachstan und in die Mongolei. Dort gibt es mittlerweile sogar ein Willkommenszentrum für geflohene Burjat*innen, die noch keine Wohnung gefunden haben.

Was sind Ihre wichtigsten Ziele?

Wir möchten, dass so wenige Menschen wie möglich an diesem Krieg teilnehmen. Und wir wollen, dass die Leute die Wahrheit darüber erfahren, was in der Ukraine passiert.

»Entnazifiziert Russland« ist eine der Aufforderungen, die Sie öffentlich verlauten lassen – eine Anspielung auf das propagandistische Narrativ, der russische Angriffskrieg diene der Entnazifizierung der Ukraine. Wieso genau ist es Ihrer Meinung nach Russland, das entnazifiziert werden sollte?

Die Aussage des Kreml, Russland müsse die Ukraine entnazifizieren, hat nicht nur uns Burjat*innen, sondern auch andere ethnische Minderheiten in Russland sehr aufgebracht: Kasachen, Kirgisen, Tadschiken. Wir alle wissen aus eigener Erfahrung leider sehr gut, dass Rassismus zu Russland gehört. Jede einzelne Person, die einer ethnischen Minderheit in Russland angehört, kann das bestätigen. Und genau deshalb darf die russische Regierung sich nicht das Recht herausnehmen zu behaupten, sie entnazifiziere irgendeine andere Nation. In der russischen Gesellschaft wird man, wenn man nicht zu der russisch-slawischen Mehrheitsgesellschaft gehört, wie ein Bürger zweiter Klasse behandelt: bei der Wohnungssuche, auf dem Arbeitsmarkt und im Alltag auf der Straße.

Über Russland als Kolonialmacht zu sprechen, ist noch immer nicht sehr weit verbreitet. Sie positionieren sich öffentlich in der Richtung, sagen, Russlands ethnische Teilrepubliken blickten auf eine lange Geschichte der Kolonialisierung zurück. Was genau meinen Sie damit?

Auf dem Papier ist Burjatien natürlich keine Kolonie, sondern eine von Russlands 22 Republiken. Fakt ist aber auch: Burjatien wurde vor 360 Jahren gezwungen, Teil des imperialen Russland zu werden. Vorher gehörte es zur Mongolei – also zu dem Land, mit dem wir noch immer eine ähnliche Sprache, die gleichen Religionen und Traditionen teilen. Es folgten Jahrhunderte der Zwangsrussifizierung. Das zog sich durch die Zeit der Sowjetunion und dauert bis in die Gegenwart an. Aus diesem Grund sprechen heute kaum noch Burjat*innen ihre Muttersprache. Und diese Kolonialisierung, wie wir sie nennen, spiegelt sich natürlich auch heute auf wirtschaftlicher und politischer Ebene wider. Die burjatische Bevölkerung kann keine eigene Regierung wählen. Der Präsident Burjatiens wird durch den Kreml in diese Position berufen und versucht somit auch, im Interesse der russischen Regierung zu handeln. Alle politischen Entscheidungen haben im Endeffekt ihren Ursprung in Moskau. Und das macht nicht nur uns in Burjatien zu einem kolonisierten Volk. Selbiges trifft auch auf die anderen ethnischen Republiken zu: auf Duwa, Sawa, Jakutien und so weiter. Aus diesem Grund freuen wir uns auch besonders darüber, dass, inspiriert durch unseren Aktivismus, ähnliche Kreml-kritische Gruppierungen in anderen ethnischen Teilrepubliken entstehen, die sich genauso gegen den Krieg in der Ukraine positionieren.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Der schreckliche Krieg in der Ukraine muss sofort aufhören. Das ist das Allerwichtigste. Und von da aus kann man Russland dekolonialisieren. Auf dem Papier ist Russland ein Föderalstaat. Aber wir wissen ja, wie es in der Realität aussieht: Wir verfügen über keinerlei Autonomie. Deshalb ist auch jede Region in Russland verarmt – außer Moskau, denn dorthin fließen alle Ressourcen.

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