Neue Mangelwirtschaft

Weil nicht mehr alles jederzeit vorhanden ist, müssen die Unternehmen umdenken

  • Sebastian Haak
  • Lesedauer: 8 Min.

Wenn Thomas Hayn an seinem Schreibtisch sitzt und seinen Kopf nur ein bisschen nach links dreht, dann kann er sie sehen, die Krisen. Oder vielmehr: Das, was die Krisen und die von ihnen verursachten Lieferengpässe seinem Unternehmen inzwischen auf den Hof gebracht haben.

Natürlich könnte Hayn auch in den Tiefen seines Computers stöbern. In Angeboten, Lieferscheinen und Rechnungen. Aber wenn er den Blick nach links schweifen lässt, wird der Notstand noch plastischer. Dann schaut der Geschäftsführer von Arjes nämlich auf ein Zelt.

Noch vor gar nicht allzu langer Zeit war an Krise bei Arjes gar nicht zu denken. »Wir haben in den vergangenen Jahren relativ sorgenfrei gearbeitet«, sagt Hayn. Das Unternehmen sitzt in Leimbach in Westthüringen und stellt Zerkleinerer her – also große Schredder, die in der Recyclingwirtschaft eingesetzt werden. Holz, Kunststoff, Metall, Bauschutt lassen sich damit zerkleinern.

In einer Welt, die zunehmend erkennt, dass Ressourcen endlich sind und die Wiederverwertung von gebrauchten Dingen wichtig ist, lässt sich gutes Geld in der Recyclingbranche verdienen. Nach Angaben von Hayn machte Arjes vor zehn Jahren einen Umsatz von etwa zehn Millionen Euro jährlich und fertigte etwa 50 bis 70 Maschinen. Im vergangenen Jahr lag der Umsatz schon bei etwa 80 Millionen Euro, erwirtschaftet durch den Verkauf von mehr als 400 Zerkleinerern. Höchstens der Mangel an weiteren, qualifizierten Beschäftigten schien das Wachstum zu bremsen.

Bye, Bye, Just in Time?

Doch diese Zeiten sind vorbei. Sie neigten sich schon mit dem Beginn der Corona-Pandemie Anfang 2020 dem Ende zu. Dann kam aber noch der russische Überfall auf die Ukraine im Februar 2022. Statt über weitere Umsatzsteigerungen sprechen zu können, muss Hayn nun über den Mangel reden. Über fehlende Motoren, Schweißdraht und das »Klopapier-Prinzip«. »Das ist ein brandgefährlicher Mix«, sagt Hayn. »Bei dem man gar nicht mehr auseinanderhalten kann, was von Corona kommt, was vom Krieg.« Für dieses Jahr erwartet Arjes einen Umsatzrückgang von zehn bis 15 Millionen Euro. Das Unternehmen wird wohl ungefähr 100 Maschinen weniger bauen als im vergangenen Jahr. »Nur wegen der Lieferengpässe«, erklärt er.

Mit derlei Sorgen stehen Hayn und Arjes freilich nicht alleine da. Im Gegenteil. Es gibt kaum ein Unternehmen in der westlichen Welt, das derzeit nicht mit unterbrochenen Lieferketten zu kämpfen hat. »Egal, wie lange ich nachdenke, mir fällt keine Branche ein, die es nicht betrifft«, sagt die Abteilungsleiterin Unternehmensförderung bei der Industrie- und Handelskammer Erfurt, Peggy Lindner. Sie geht – laut denkend – verschiedene Branchen durch, bis sie bei einem imaginären Gastronomen gelandet ist, der nur regionale Produkte verkocht. »Aber selbst bei dem kommen die Stühle für die Gäste wahrscheinlich aus Italien, seine Küchengeräte zumindest teilweise aus China.« Also über Lieferketten, die nicht mehr zuverlässig funktionieren.

Beim Deutschen Gewerkschaftsbund schätzt man die Lage ganz ähnlich ein. Fast alle Produktionsbranchen klagten über Lieferkettenprobleme, sagt Julia Langhammer, die beim DGB Hessen-Thüringen die Abteilung für Wirtschaftspolitik leitet. In Zulieferbetrieben für die Automobilindustrie oder im Maschinenbau könne oft nicht durchgehend produziert werden, weil dort Teile aus China fehlten. In der Lebensmittelindustrie mangele es an Kartonagen und Folien. Und die Süßwarenindustrie leide – ausgerechnet in der Vorweihnachtszeit – vielerorts unter einem Mangel an Schokolade als Rohstoff, was allerdings weder mit Corona noch mit dem Krieg in der Ukraine zu tun hat. Stattdessen seien vor einigen Monaten in einem für die Branche wichtigen Werk in Belgien Salmonellen gefunden worden, was zu einer Unterbrechung der dortigen Produktion geführt hatte; mit bis heute spürbaren Folgen.

Um auf diese Situation reagieren zu können, haben sich aus Sicht von Hayn vor allem zwei Strategien bewährt; und eine weitere, die eigentlich gar nicht als solche gedacht war.

Abhilfe per Kirmeszelt

Die erste dieser Strategien führt nach einem längeren Gespräch im Büro Hayns schließlich zu dem Zelt, über das er vor dem Rundgang übers Firmengelände noch gesagt hatte: »Sie sehen da drüben ein Kirmeszelt, das kein Kirmeszelt ist. Das ist ein temporäres Lager, das wir eingerichtet haben. Jetzt steht es seit zwei Jahren.« Im Inneren des Zelts liegen Unmengen Schweißdraht auf Halde, dazu zum Beispiel Motoren und Teile, die für die Hydraulik der Zerkleinerer gebraucht werden.

Diese Art von großer Lagerhaltung wird nach übereinstimmender Einschätzung von Hayn und Lindner für nicht wenige Unternehmen normal werden. Immer vorausgesetzt natürlich, die Betriebe verfügen über die nötigen Flächen, um Lager zu errichten. »Das ist aktuell der richtige Weg, trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten«, sagt Lindner, die damit zumindest indirekt auch den Abschied von einem lange gelebten Wirtschaftsprinzip beschreibt: der Idee von der Just-in-time-Produktion, also dem Vorsatz, immer nur genauso viele Vorräte im Unternehmen zu haben, wie man auf absehbare Zeit wirklich braucht. Hayn beschreibt diese Rückkehr zur aus früheren Zeiten bekannten Lagerwirtschaft noch deutlicher: »Ich bin der Meinung, dass just in time ein Thema für die Geschichtsbücher ist.«

Was es für viele Unternehmen schwierig macht, jetzt wieder größere Lagerbestände aufzubauen, ist allerdings, dass nach den Beobachtungen Hayns viel gehortet wird und dadurch neue Engpässe entstehen. Das erinnert an die erste Phase der Corona-Pandemie, als kaum noch Toilettepapier in den Supermärkten zu haben war. »Man hatte zuletzt das Gefühl, dass nach dem Klopapier-Prinzip bestellt worden ist: Man hat von einem Teil 500 Stück gebraucht und 1000 Stück bestellt, in der Hoffnung, dann wenigstens 400 Stück geliefert zu bekommen.« Damit habe man in der Wirtschaft zuletzt oft so gearbeitet, »wie man marktwirtschaftlich nicht arbeiten sollte«. Auch weil dadurch die Preise nur noch weiter steigen.

Die zweite Strategie, die Hayn und Lindner als Antwort auf die globale Lieferketten-Krise verfolgen oder empfehlen, hat nichts mit Zelten, aber viel mit Vertrauen zu tun: Auf bekannte und bewährte, am besten auch noch regionale Geschäftspartner und Zulieferer setzen, wobei die Crux dieser Strategie nach Angaben von Lindner darin besteht, sich gleichzeitig nach alternativen Bezugsquellen für wichtige Teile umzuschauen. Wer Produkte aus der Region nutze, der könne einigermaßen gelassen auf geschlossene chinesische Häfen blicken, argumentiert Lindner.

Kein Universalrezept

Dass diese zweite Strategie bei einem zugelieferten Teil funktionieren kann, bei einem anderen dagegen nicht, davon wiederum kann Hayn erzählen. Bei den Motoren, die Arjes in seine Zerkleinerer einbaut, sei es ziemlich aussichtslos, sich nach Alternativen umzuschauen. »Wenn Ihnen Volvo keinen Motor liefern kann, können Sie zwar in der Theorie auf einen anderen Anbieter ausweichen«, sagt er. »In der Praxis haben aber alle die gleichen Probleme.«

Bei Stahl dagegen war das Unternehmen erfolgreich. Als der Nachschub zu versiegen drohte, gelang es Hayn und seinen Leuten, eine andere Quelle aufzutun.

Langhammer allerdings beobachtet, dass auch jenseits der Frage, ob es derzeit überhaupt möglich ist, große Lagerbestände aufzubauen oder auf regionale Partner zu setzen, bei der Abkehr von der Just-in-time-Produktion und allem, was damit zusammenhängt, längst nicht alle Unternehmen so weit sind wie Arjes. Zwar reagiere man in den Chefetagen der Unternehmen inzwischen offener als früher auf Vorschläge zu mehr Lagerhaltung oder einer Rückverlegung der Wertschöpfungsketten nach Europa oder Deutschland. Langhammer merkt jedoch auch, dass dies bislang nur Gedankenspiele sind. »Wir sehen, dass über Produktionsstätten in Europa und auch mehr Lagerhaltung gesprochen wird, größere Investitionen können wir aber nicht verzeichnen. Das Prinzip der absoluten Kostenminimierung, das die Just-in-time-Produktion vor allem motiviert, ist nach wie vor sehr wirkmächtig.«

Dabei sei es doch gerade auch aus einer gewerkschaftlichen Perspektive wichtig, wegzukommen von just-in-time, von unterbrochenen Lieferketten, von stockenden Produktionsabläufen. Immerhin wirkt sich all das auch auf den Arbeitsalltag von Beschäftigten aus. »Da die Produktion weniger planbar ist, ist auch für die Beschäftigten die Arbeit weniger planbar«, sagt Langhammer. In der Automobil-Zulieferindustrie würden zu manchen Zeiten Sonderschichten geschoben werden, weil lange erwartete Teile gerade mal verfügbar seien. »Wenn die Teile nicht kommen oder das Lager voll ist, geht´s in die Kurzarbeit.«

Und die dritte Strategie, die gar nicht als solche gedacht war? Die Zerkleinerer von Arjes gibt es nur in drei Ausführungen und es gibt nur wenige Möglichkeiten, die Maschinen zu verändern. Das sei ein »schlankes Produktportfolio«, sagt Hayn. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Macher der Zerkleinerer weniger verschiedenartige Teile brauchen als Unternehmen, die Spezialmaschinen in fünf, zehn oder fünfzehn Ausführungen mit jeweils fünf, zehn oder fünfzehn Konfigurationen anbieten.

Für so viele verschiedene Einzelteile wäre selbst in dem großen Zelt kein Platz. Ganz abgesehen davon, wie unmöglich es derzeit wäre, diese Teile zeitnah und zuverlässig zu beschaffen. Diese Strategie wird sicherlich schon bald in der Wirtschaft noch viel mehr Beachtung finden. Auf der Suche nach einem Weg in die Zukunft ist weniger eben manchmal mehr.

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