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Tödlicher »Unfall« mit Vorgeschichte
Das Landgericht Göttingen wirft Cemal A. »heimtückischen Mord« an seiner Ehefrau Besma vor
In Göttingen steht ein Mann vor Gericht, der seine Frau erschossen hat. Nach der Tat am 14. April 2020 sprach Cemal A. stets von einem tragischen Unfall: Ein Schuss habe sich beim Reinigen der Waffe gelöst. Auch seine Verteidigung besteht seit 46 Verhandlungstagen vor dem Landgericht Göttingen auf dieser Darstellung. Die Staatsanwaltschaft wirft A. hingegen »heimtückischen Mord« vor.
Für Montag war ursprünglich das Urteil in dem Prozess erwartet worden. Allerdings brachte die Verteidigung weitere Beweisanträge ein. Einen davon wies der Richter sofort ab. Auf die restlichen will er beim nächsten Termin eingehen.
Besma A. war am Tattag auf dem Sofa in ihrer Wohnung im niedersächsischen Einbeck eingeschlafen. Ihr Ehemann Cemal A. wählte gegen Mitternacht den Notruf und erklärte, er habe versehentlich seine Frau erschossen. Ein einzelner Schuss in den Kopf tötete Besma A. Die Staatsanwaltschaft Göttingen glaubt die Erzählung von einem Versehen nicht. Bereits seit dem 26. Januar 2021 wird gegen den heute heute 51-Jährigen verhandelt.
Besma A. hatte sich vor ihrem Tod ihrer in den Niederlanden lebenden Familie anvertraut. Ihrer Mutter und Schwester berichtete sie in Sprachnachrichten, dass ihr Ehemann sie schlage, trete und beschimpfe. Die Aufnahmen wurden im Gericht angehört. In einer Nachricht sagte sie: »Wenn er nicht immer bei der Arbeit wäre, dann hätte er einen von uns getötet.« Angehörige der jungen Mutter aus Şengal im Irak brachen vor Gericht in Tränen aus, als sie ihre Stimme hörten.
Die Verteidiger*innen von Cemal A., Gabriele Heinecke und Florian Melloh, bezweifelten hingegen, dass es Besma A. war, deren Stimme in den Nachrichten zu hören ist, die von ihrem Handy verschickt worden waren. Aktivist*innen der Initiative Prozessbeobachtung Besma A. begleiten und protokollieren das Verfahren seit Mai 2021. Dem »nd« berichten sie, dass ein von Besma versendetes Foto ihr Gesicht nach Gewalteinwirkung zeige. Die Verteidigung habe dazu erklärt, es könne sich bei der Hautveränderung auch um Herpes handeln.
In der Tatnacht soll Cemal A. eine Flasche Glühwein und eine halbe Flasche Rakı getrunken haben. Aufgrund des Alkohols sei er nicht mehr bei vollem Bewusstsein gewesen, erklärte die Verteidigung.
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Nach einem Jahr und zehn Monaten Hauptverhandlung trugen Staatsanwalt Jens Müller und Manfred Koch, der die Familie von Besma A. als Anwalt der Nebenklage vertritt, im November ihre Plädoyers vor. Laut Staatsanwalt ist davon auszugehen, dass Cemal A. die Situation genutzt hat. Seine Entscheidung, seine Ehefrau zu ermorden, sei möglicherweise gefallen, weil er befürchtete, dass sie sich von ihm trennen würde. Der Großteil des Alkohols sei nach der Tat getrunken worden, um den Unglücksfall plausibel erscheinen zu lassen.
Die Anklagebehörde beantragte wegen Mordes und illegalen Waffenbesitzes eine lebenslange Haftstrafe. Koch betonte in seinem Plädoyer, dass Besma A. dank der Nachrichten, die sie ihrer Familie schickte, als Zeugin in eigener Sache habe aussagen können. Es sei zu klar geworden, dass sie erniedrigt und geschlagen wurde. »Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel.«
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In einer Nachricht hatte die 27-jährige gesagt: »Es gibt nichts, was er mir nicht angetan hat.« Eine Aussage, die nach Ansicht einer der Prozessbeobachterinnen »Ausdruck von eindeutigem Leid« war. Für Koch spricht alles dafür, dass Besma A. einem Femizid zum Opfer gefallen sei, also einer Tötung, »weil sie eine Frau ist«. Es war das erste Mal, dass der Begriff im Gerichtssaal fiel. Die Prozessbeobachter*innen hatten zuvor schon lange gefordert, die Tat so zu benennen.
Der Beschuldigte schwieg das ganze Verfahren über und zeigte keine Regung. Nur ab und zu lächelte er seinen Angehörigen auf der Besuchertribüne zu Beginn der Verhandlung zaghaft zu oder deutete einen Luftkuss an. Seine Verteidigung bemühte sich, alle Indizien, die für Mord sprechen, zu entkräften. Dazu nutzten die Anwält*innen Foto- und Videoaufnahmen von Familienfeiern und anderen Anlässen, bei denen Besma A. fröhlich wirkte.
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Am Montag sollten die Plädoyers fortgeführt werden. Die zweite Vertreterin der Nebenklage, Yana Tchelpanova, verwies darauf, dass der Angeklagte offenbar keinen respektvollen Umgang mit Frauen habe. Das zeige der Ausgang seiner ersten Ehe. Es habe ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung gegeben, seine Exfrau habe zeitweise in einem Frauenhaus gelebt. »Offenbar ist es so, dass der Angeklagte sich seiner Frauen entledigen will wie Kakerlaken«, so Tchelpanovas Einschätzung.
Dazu erklärte die Verteidigung, es handele sich um eine »reine Schmähung« und Herabsetzung. Heinecke und Melloh beantragten, den Tatbestand der Beleidigung festzustellen und zu überprüfen. Tchelpanova erwiderte, dass es in einem Plädoyer üblich sei, zu überspitzen.
Nach Ansicht der Verteidiger*innen stützten sich die Plädoyers der Anklage auf viele unbelegte Behauptungen. So sei nicht bewiesen, wann der Beschuldigte den Alkohol trank und dass er den Tatort inszenierte. Das Mordmotiv des Frauenhasses sei eine nicht belegte Erfindung der Nebenklage.
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