Weshalb die Streikwelle enorm wichtig ist

Sinkende Reallöhne, restriktives Streikrecht – nun begehren Beschäftigte in Großbritannien auf

  • Peter Stäuber
  • Lesedauer: 6 Min.
Pflegekräfte und andere Beschäftigte des britischen Gesundheitsdiensts NHS haben diese Woche für höhere Löhne gestreikt.
Pflegekräfte und andere Beschäftigte des britischen Gesundheitsdiensts NHS haben diese Woche für höhere Löhne gestreikt.

In Großbritannien, wo man gern in die Vergangenheit zurückblickt, spricht man dieser Tage von einem zweiten »winter of discontent«, einem Winter der Unzufriedenheit. Den ersten durchlebte das Land 1978/79, als Hunderttausende Menschen streikten, um einen besseren Lohn einzufordern. Es war die größte Periode von Arbeitskämpfen in Großbritannien seit dem Generalstreik von 1926. Und es war das letzte Mal, dass sich die britischen Gewerkschaften richtig aufbäumten. Kurz danach kam der Wahlsieg von Margaret Thatcher, im folgenden Jahrzehnt musste die Arbeiterbewegung einen Rückschlag nach dem anderen hinnehmen. Der Niedergang war steil und dauerhaft: Zählte das Land 1979 noch über 13 Millionen Gewerkschaftsmitglieder, waren es 2021 gerade einmal halb so viele.

Aber in diesem Winter bewegt sich etwas. Mehrere hunderttausend Angestellte, darunter Rettungssanitäter und Pflegekräfte, Postbeamte und Schaffner, Busfahrerinnen und Stellwerker, sind im Dezember im Streik. Am Freitag begannen die Eisenbahner von der RMT ihren zweiten 48-stündigen Ausstand in dieser Woche, am Donnerstag legten zudem im ganzen Land zehntausende Pflegekräfte die Arbeit nieder. Unterdessen stapeln sich auf den Postämtern die Briefe, weil die rund 115 000 Angestellten der Royal Mail ebenfalls zum vierten Mal in diesem Monat streiken. Vor manchen Postdepots soll man sogar Füchse und Ratten gesehen haben, die sich durch nicht zugestellte Pakete knabberten.

Insgesamt dürfte es landesweit bis zu eine Million Streiktage in vier Wochen sein, es wäre der größte Streikmonat seit über 30 Jahren. Im Vordergrund der Dispute stehen Lohnforderungen. Die Arbeiter wollen eine Bezahlung, die der hohen Inflation Rechnung trägt, insbesondere den hohen Energiepreisen. In Großbritannien liegt die Inflation derzeit bei etwa elf Prozent. Die Lohnerhöhungen, die die Regierung und private Unternehmen wie die Bahnbetreiberfirmen oder Royal Mail ihren Angestellten offeriert haben, liegen weit darunter.

Das ist für viele besonders schmerzhaft, weil die Löhne schon seit über einem Jahrzehnt stagnieren oder preisbereinigt sogar sinken. Pfleger*innen zum Beispiel, so zeigt eine Analyse, verdienen heute inflationsbereinigt 20 Prozent weniger als 2010. »Nach der Stagnation und der abnehmenden Kaufkraft im Lauf der vergangenen zwölf Jahre sind die Leute schlichtweg nicht bereit, eine Lohnkürzung in Kauf zu nehmen«, sagt Ewan McGaughey, Dozent am King’s College in London, der sich auf die Geschichte des Arbeitsrechts spezialisiert hat. »Das ist der Grund, weshalb wir jetzt eine riesige Zahl an
Streiks sehen.«

Ob die Streikwelle für die britische Arbeiterbewegung einen umfassenden Neuanfang markiert, den Beginn einer Rückkehr zu vormaliger Stärke, das lässt sich allerdings noch nicht sagen. McGaughey ist vorsichtig: »Es ist unwahrscheinlich, dass die Streiks allein den langen Niedergang rückgängig machen werden.« Denn die Gründe für diesen Niedergang liegen nicht zuletzt in mehreren Reformen des Arbeiterrechts, im Klartext: Die Gewerkschaftsgesetze wurden in den vergangenen 40 Jahren laufend verschärft. Folgenreich sei insbesondere das Ende des »closed shop« gewesen, sagt McGaughey. So hieß das System, bei dem alle Angestellten eines Betriebs Mitglied einer bestimmten Gewerkschaft sein mussten. Wer es nicht war, durfte im Betrieb nicht arbeiten. Margaret Thatcher machte damit Schluss: Ein Gesetz von 1990 verbot den »closed shop«. »Das bedeutet, dass die Leute sich seither aktiv um die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft bemühen müssen«, sagt McGaughey. »Und das hat automatisch zur Folge, dass die Zahl der Mitglieder langsam abnimmt.«

Zudem verabschiedete die konservative Regierung von 1980 bis 1993 sechs Gesetze, um Streiks zu erschweren. Seither dürfen Angestellte nur vor ihrem eigenen Arbeitsplatz an einem Streikposten stehen, Solidaritätsstreiks sind verboten. Eine weitere Verschärfung kam 2016: Reichte zuvor eine einfache Mehrheit der abgegeben Stimmen, damit eine Gewerkschaft einen Streik ausrufen konnte, müssen sich jetzt mindestens 50 Prozent der Mitglieder an der Abstimmung beteiligen. Zusammengenommen haben diese sukzessiven Verschärfungen zur Folge, dass Großbritannien heute die restriktivsten Gewerkschaftsgesetze in Europa habe, schreibt der Jurist David Renton im Magazin »Tribune«.

Das ist auch ein entscheidender Grund, weshalb britische Gewerkschaften als »kämpferisch« gelten: Ohne Kampf geht nichts. Anders als in Deutschland, wo die Belegschaft über Betriebsräte ein Mitspracherecht hat, haben die Angestellten in Großbritannien keinerlei Möglichkeit, Unternehmensentscheide zu beeinflussen.

Angesichts der unzähligen Hürden, die nachfolgende Regierungen der organisierten Arbeiterschaft in den Weg gestellt haben, verwundert es wenig, dass die Streikaktivität in den vergangenen Jahren auf einem historischen Tiefstand angekommen war. Wenn also derzeit von einer Rebellion der Gewerkschaften die Rede ist, muss man relativieren: Trotz aller hysterischen Schlagzeilen in der konservativem Presse spielt sich alles auf einem relativ bescheidenen Niveau ab, zumindest wenn man die längere Perspektive einnimmt. In den 80er Jahren gab es mehrere längere und intensivere Streikperioden – und verglichen mit dem »winter of discontent« ist dieser Dezember ein Klacks: Im Jahr 1979 wurden insgesamt 30 Millionen Streiktage gezählt, allein an einem Tag im Januar legten 1,5 Millionen öffentliche Angestellte die Arbeit nieder. Davon ist Großbritannien heute weit entfernt.

Andererseits: Gerade weil die Gesetze so restriktiv sind und die Gewerkschaften in den vergangenen Jahren eher lethargisch waren, ist die Bedeutung dieser Streikperiode enorm. Auch zeigen sich die Gewerkschafter solidarisch mit anderen Streikenden. Als die Pfleger*innen am Donnerstag die Arbeit niederlegten, kam RMT-Chef Mick Lynch, derzeit das bekannteste Gesicht der Arbeiterbewegung, an ihrem Streikposten vorbei, um sie zu unterstützen. Die Basiskampagne »Enough is Enough« wurde im Sommer gegründet, um dieser Solidarität ein Gerüst zu geben und den Zusammenhalt der Gewerkschaften zu stärken. »Es gibt zwar keinen Versuch, einen Generalstreik zu organisieren«, sagt McGaughey, »aber es ist bedeutsam, dass es in der ganzen Gewerkschaftsbewegung einen Konsens gibt, dass die Regierung und die Arbeitgeber versagt haben.«

Ebenso entscheidend ist die Unterstützung der Öffentlichkeit. Ungeachtet der heftigen Angriffe seitens der Regierung und der einflussreichen konservativen Presse haben die Menschen in Großbritannien bislang viel Sympathie für die Streiks gezeigt. Laut einer Umfrage steht die Hälfte der Öffentlichkeit hinter dem Streik der Krankenpfleger*innen, nur ein Drittel ist dagegen, und das trotz großer Bedenken wegen der Sicherheit der Patient*innen. »Die Leute in Großbritannien sind sich bewusst, dass es die Pfleger sind, die sie versorgen; die Eisenbahnfahrer, die sie an ihren Arbeitsort bringen; und die Lehrer, die sich um ihre Kinder kümmern. Sie wollen auf der Seite dieser Leute stehen – nicht auf jener der Ölbosse und Aktionäre«, sagt McGaughey.

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