Ein Blatt, so wertvoll wie ein Stück Land

Zertifikate für Nutzungsrechte an Waldflächen sind in Vietnam hoch begehrt

  • Sarah Grieß, INKOTA
  • Lesedauer: 6 Min.
Eine Kleinbäuerin bestätigt den Erhalt ihres Nutzungszertifikats.
Eine Kleinbäuerin bestätigt den Erhalt ihres Nutzungszertifikats.

Kleine Freudentränen kullern über Vi Thi Hues Gesicht, als sie endlich das lang ersehnte Zertifikat in den Händen hält. Es ist nur ein einfaches Blatt Papier, aber für Hue von unschätzbarem Wert. Als Kleinbäuerin in den nördlichen Bergen Vietnams ist sie in besonderem Maße darauf angewiesen, dass sie Land nutzen darf. Grund und Boden kann man in Vietnam nicht besitzen, da unter der kommunistischen Regierung aus ideologischen Gründen alle Ländereien dem Volk gehören. Einzelne können jedoch sogenannte Landnutzungsrechte vom Staat erwerben, und genau solch ein Nutzungsrecht wird Hue nun feierlich erteilt.

Es ist der 25. Mai 2022. Das halbe Dorf ist anwesend, als Hue im örtlichen Versammlungshaus das Zertifikat in Empfang nimmt. Dieses wird in Vietnam wegen seiner roten Farbe auch schlicht »Red Book« genannt. Mit einem Buch hat es aber nicht viel gemein. Kurz und knapp enthält es die folgenden Angaben: Name der oder des Rechte-Inhabenden, Geburtsdatum, ausstellende Gemeinde, Größe der Fläche – und darunter eine Zeichnung mit den genauen Markierungen. Auch Angaben zur erlaubten Form der Landnutzung dürfen nicht fehlen.

Hue liest sich die wenigen Zeilen immer und immer wieder durch, bevor sie glauben kann, was dort steht: Insgesamt 3,7 Hektar landwirtschaftlich nutzbare Waldflächen wurden ihr übertragen. Sie hebt den Kopf und blickt hinüber zu den beiden anwesenden Chiase-Mitarbeitenden. Diese haben einen bedeutenden Anteil an ihrem Glück. Denn es war die vietnamesische Nichtregierungsorganisation Chiase, die sich dafür eingesetzt hat, dass in Hues Gemeinde Yen Na wie auch in der Nachbargemeinde Yen Thang besonders arme Kleinbauernfamilien Zugang zu neuem Land erhalten. Land, das sie dringend brauchen.

Nahezu alle Einwohner*innen in Yen Na und Yen Thang verdienen ihren Lebensunterhalt ausschließlich mit der Land- und Waldwirtschaft. Allerdings sind die verfügbaren Flächen zu klein, um alle Familienmitglieder zu ernähren und gleichzeitig noch etwas auf dem lokalen Markt verkaufen zu können. Viele Familien leben deshalb in großer Armut. Einige Hektar zusätzliches Land können da ein wichtiger Ausweg sein. Das hat auch Chiase erkannt. In Verhandlungen mit der lokalen Regierung konnten sie einige Flächen identifizieren, die zuvor von staatseigenen Betrieben verwaltet wurden und nun an besonders bedürftige Haushalte übergeben werden können.

Die Zucht von Waldbienen verspricht ein stabiles Einkommen.
Die Zucht von Waldbienen verspricht ein stabiles Einkommen.

Hue ist eine von ihnen. Sie ist aber nicht die Einzige. Im Rahmen des von INKOTA finanzierten Projektes werden insgesamt 846 Haushalte zusätzliche Landtitel erhalten. Allein 93 in Hues Dorf Ve. Bevor sie aber eines der begehrten »Red Book«-Zertifikate in Empfang nehmen können, mussten etliche Vorarbeiten erfolgen. Auf Initiative von Chiase war die lokale Bevölkerung von Anfang an dabei und hat den Prozess maßgeblich mitgestaltet: Mithilfe von GPS-Geräten und unabhängigen Expert*innen haben sie die zu vergebenen Flächen vermessen, entsprechende Markierungen gezogen und besondere Merkmale dokumentiert, zum Beispiel große Bäume, seltene Heilkräuter oder einen Bewässerungskanal. In Dorfversammlungen wurde dann gemeinsam entschieden, welche Bewohner*innen künftig welche Flächen nutzen dürfen.

Dass die lokale Bevölkerung an solchen Entscheidungen beteiligt wird, ist in Vietnam eher eine Seltenheit. Dabei ist es enorm wichtig, um gemeinsam zu einer guten Lösung zu kommen. Entsprechend glücklich zeigt sich Vi Bun Mi. Er ist Kleinbauer wie Hue, ebenfalls in der Gemeinde Yen Na. »Wir freuen uns sehr, an allen Schritten der Landvergabe beteiligt worden zu sein«, sagt er. »Das hilft, Streitigkeiten zu verhindern, die in der Vergangenheit immer wieder auftraten, weil die Menschen die Grenzen ihrer Grundstücke nicht richtig kannten. Jetzt hingegen haben sie diese selbst vermessen und mit ihren Nachbarn zusammen die Markierungen gezogen.« Sollte es doch einmal zu Unstimmigkeiten kommen, würden sie direkt vor Ort geklärt.

Vergleichbare Erfahrungen hat auch Dorfleiter Loung Van Le gemacht: »Ich war sehr beeindruckt davon, wie das Chiase-Team mit schwierigen Situationen umgeht. Wirklich alle Sorgen oder Kommentare wurden angehört, sie wurden analysiert und diskutiert. So lange, bis eine für alle gute Lösung gefunden wurde.«

Von diesem Verfahren der Beteiligung hat sich mittlerweile auch die lokale Regierung überzeugen lassen. Wie in Yen Na und Yen Thang erprobt, soll jetzt auch in der Gemeinde Huu Khoung die Bevölkerung von Beginn an eingebunden werden. Durch die Lage, abgeschieden in den Bergen und nur per Boot über einen Fluss zu erreichen, sind die Lebensbedingungen in Huu Khoung besonders herausfordernd. 78 Prozent der Menschen dort leben in großer Armut. Sie haben nur wenig Kontakt zur Außenwelt. Umso wichtiger wird es sein, wenn Hue und einige andere bei persönlichen Besuchen ihre Erfahrungen mit dem partizipativen Vergabe-Prozess teilen und aktiv einbringen.

Im Moment aber stehen sie selbst noch im Mittelpunkt und dürfen sich über die gerade zugeteilten Waldflächen freuen. Es sind Waldflächen, kein Ackerland. Das ist allen im Versammlungshaus klar. Aber das ist angesichts der örtlichen Begebenheiten auch nicht weiter verwunderlich, denn die Gemeinde Yen Na liegt inmitten dicht bewachsener Berge. Klassisches Ackerland gibt es hier nur wenig. Und so wird hier die Land- bzw. Waldwirtschaft schon immer etwas weiter gefasst.

Der stellvertretende Vorsitzende des örtlichen Volkskomitees Luong Ba Truyen erklärt noch einmal ausführlich, was konkret damit gemeint ist: Hue darf ihre Kühe grasen lassen oder Waldbienen züchten. Auch darf sie kleinere Mengen an Bambussprossen, Gemüse, Heilpflanzen, Feuerholz und andere Materialien sammeln und für den Eigengebrauch nutzen oder lokal vermarkten. Eine großflächige Felderwirtschaft hingegen ist nicht erlaubt, denn der Wald muss erhalten bleiben und darf nicht aus kurzfristigen Profitgründen abgeholzt werden.

Dieser Aspekt ist INKOTA-Projektpartner Chiase besonders wichtig. Chiase möchte die Armut unter der Bevölkerung bekämpfen, nicht aber auf Kosten der Umwelt. Aus diesem Grund wird jede Landvergabe von umfassenden Schulungsangeboten begleitet. Dabei wird intensiv darüber gesprochen, welche Auswirkungen die jeweilige Bewirtschaftung auf das betreffende Land haben und welche speziellen Schutzmaßnahmen ergriffen werden können. Beispielsweise werden Informationen geteilt, welche Bäume sich in dem konkreten Gebiet zur Aufforstung eignen und was beachtet werden muss, um das ökologische Gleichgewicht nicht zu stören.

Der stellvertretende Vorsitzende Truyen ist fest davon überzeugt, dass der Wald durch die Zuteilung an die Kleinbäuerinnen und -bauern besser geschützt wird. Sobald klare Nutzungsrechte bestehen, fühlen sich die Menschen verantwortlich und kümmern sich um den Erhalt des Waldes. Und so werden sich Hue und die anderen schon bald zusammensetzen, um einen detaillierten Schutzplan aufzustellen. Das planen sie noch fest ein, bevor sie mit zuversichtlichem Blick in die Zukunft das Versammlungshaus mit ihren neuen Zertifikaten verlassen.

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