Selenskyj holt Patriots ab

Ukrainischer Präsident spricht mit Joe Biden und vor dem US-Kongress

  • René Heilig
  • Lesedauer: 5 Min.

Nach mehr als 300 Tagen Krieg in der Ukraine sollte politisch etwas in Bewegung kommen, das im besten Fall zu einer Unterbrechung des Mordens führen kann. Die russische Regierung sucht offenbar nach Lösungen, die militärisch kaum zu erreichen sind. Präsident Wladimir Putin bekannte am Mittwoch, dass die Situation in den vier besetzten ukrainischen Gebieten »extrem kompliziert« sei. Noch aber gab es zumindest offiziell kaum Anzeichen für Vernunft.

Am Dienstag hatten der russische wie der ukrainische Präsident ihre jeweiligen Helden geehrt. Putin ließ sie im goldblinkenden Kreml antreten. Wolodymyr Selenskyj fuhr zu Soldaten einer mechanisierten Infanterieeinheit in die Region Donezk. Knapp zwei Kilometer vor der aktuellen Frontlinie sah er sich in der seit Monaten hart umkämpften Stadt Bachmut um. Es gab eine Schweigeminute für gefallene Kämpfer, der Präsident schüttelte Hände einfacher Soldaten und verteilte – wie sein russischer Kollege – an die Brust heftbares Blech. Die Medien hatten ihre Bilder, die psychologisch durchaus interessant waren, hier wie dort. Die eigentlichen Bilder aber gingen gut 24 Stunden später um die Welt. Sie kamen aus Washington.

Kurz nach dem Frontbesuch fuhr Selenskyj mit dem Zug nach Polen. In Rzeszow, einem für den Nachschub zentralen Flughafen, bestieg er eine Maschine, die ihn in die Hauptstadt der USA brachte. Kaum an Bord twitterte er: »Ich bin auf dem Weg in die Vereinigten Staaten, um die Widerstandsfähigkeit und die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine zu stärken.« Selbstbewusst teilte Selenskyj mit, dass er sich mit Präsident Joe Biden treffen und »die Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und den Vereinigten Staaten diskutieren« werde. Zur besten Sendezeit, so kündigte wenig später der US-Nachrichtensender CNN an, wolle Selenskyj eine Rede vor dem Kongress halten. Die Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi hatte überraschend alle Abgeordneten aufgefordert, zu diesem Termin unbedingt in Washington zu erscheinen.

Dem Weißen Haus zufolge hatten Biden und Selenskyj während eines Telefonats Mitte Dezember erstmals über einen möglichen Besuch gesprochen. Später sei eine offizielle Einladung erfolgt. Der Zeitpunkt könnte von großer symbolischer Bedeutung sein, jedenfalls aus Sicht der USA. Medien erinnerten: Genau vor 81 Jahren, mitten im Zweiten Weltkrieg und nur wenige Tage nach dem japanischen Überfall auf den US-Stützpunkt Pearl Harbor, war der britische Premierministers Winston Churchill zu einem Termin mit US-Präsident Franklin Roosevelt nach Washington gereist. Dieser »Weihnachtsbesuch«, so erinnern jetzt US-Historiker, hatte zu einem Wechsel der bisherigen US-amerikanischen Politik geführt. Sie hatte geholfen, den Krieg in Europa zu gewinnen sowie eine weithin US-dominierte Nachkriegsordnung aufzubauen. Er spüre »ein Gefühl der Einheit und brüderlichen Gemeinschaft, das mich zusammen mit der Freundlichkeit eures Empfangs davon überzeugt, dass ich das Recht habe, an eurem Kamin zu sitzen und eure Weihnachtsfreuden zu teilen«, hatte der britische Premier damals gesagt.

Es ist wieder kurz vor Weihnachten und Selenskyj verglich bereits mehrfach den Widerstand seiner Nation gegen den russischen Überfall mit dem Ringen Großbritanniens gegen Nazi-Deutschland. Dabei verwies er immer wieder auf das damals zwischen London und Washington geschlossene Bündnis, ohne das Großbritannien vermutlich Hitlers Ansturm nicht überstanden hätte.

Bei dem aktuellen Besuch gehe es darum, »eine Botschaft an Putin und an die Welt zu senden, dass die Vereinigten Staaten für die Ukraine da sein werden, solange es nötig ist«, hieß es in Washington. Zugleich ergebe sich so die Möglichkeit, dass sich der ukrainische Präsident direkt an das amerikanische Volk wenden könne. Denn auch in den USA gibt es mehr und mehr Unmut über die lange und teure Unterstützung, mit der Kiew bedacht wird.

Seit dem Beginn des russischen Überfalls Ende Februar haben die USA die Ukraine unter anderem mit milliardenschwerer Militärhilfe unterstützt. Biden werde am Mittwoch ein weiteres militärisches Hilfspaket in Höhe von knapp zwei Milliarden US-Dollar ankündigen, teilte ein hochrangiger Vertreter der US-Regierung bereits vor der Begegnung der beiden Staatsoberhäupter mit.

Am Dienstag hatten sich Republikaner und Demokraten im Kongress auf einen Haushaltsentwurf geeinigt, der weitere Militärhilfen zulässt. Die Zustimmung des Senats ist eine Formsache. Darin enthalten ist die Lieferung des Patriot-Flugabwehrsystems. Russland kritisiert die Absicht bereits seit Tagen. Wie andere schwere Waffen auch würden die Patriot-Raketen für die russischen Streitkräfte zu »rechtmäßigen vorrangigen Zielen«, drohte die Sprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa.

Regierungssprecher Dmitri Peskow betonte gegenüber der russischen Nachrichtenagentur Interfax, der Besuch von Selenskyj werde »zu einer Verschärfung des Konflikts führen und verheißt an sich nichts Gutes für die Ukraine«. Es sei nicht zu erwarten, dass Kiews Machthaber nach seiner Reise verhandlungsbereit gegenüber Moskau sein werde.

In der Tat kann das Patriot-System zu einem zusätzlichen Problem für die Angreifer werden. Denn es ist in der Lage, Flugzeuge, Marschflugkörper, Drohnen und Raketen präzise auch in größerer Entfernung zu treffen. So lässt sich eine Art »No-Fly-Zone« gegen die russischen Luft- und Raketenstreitkräfte aufbauen. Über die Ausbildung der ukrainischen Bedienmannschaften, die gewiss mehrere Wochen in Anspruch nimmt, verlautete bislang, dass sie in einem Drittland stattfinde. Denkbar ist, dass die Ukrainer in Deutschland ausgebildet werden. Infrage käme der Truppenübungsplatz Grafenwöhr in Bayern.

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