Geflüchtete zweiter und dritter Klasse

Wer vor der russischen Aggression Schutz in Deutschland suchte und keinen ukrainischen Pass hat, muss eine Abschiebung fürchten

  • Ramon Schack
  • Lesedauer: 9 Min.

Ein Straßencafé im Herzen von Unna. Denis Uvarov hat gerade Platz genommen, als er Haroon Osama erblickt, mit dem er hier verabredet ist. Die Männer umarmen sich wie alte Freunde. Dabei könnten sie – auf den ersten und oberflächlichen Blick zumindest – kaum unterschiedlicher sein.

Uvarov ist russischer Staatsbürger, wurde 1978 in der Nähe von Smolensk geboren und absolvierte ein Studium der Geografie an der Universität von St. Petersburg. Osama ist 29, kam im pakistanischen Karatschi zur Welt und verfügt über ein Vordiplom in Ingenieurswissenschaften.

Die Männer haben sich in einem Aufnahmelager für Geflüchtete aus der Ukraine in Unna kennengelernt; ihr Schicksal als Geflüchtete ohne ukrainischen Pass vereint sie. Bis zum russischen Einmarsch in der Ukraine war Haroon Osama Student in der ostukrainischen Millionenstadt Charkiw, während Denis Uvarov als Fitnesstrainer in Kiew lebte.

Uvarov öffnet seine braune Ledertasche und legt einen Stapel Papiere auf den Tisch. »Zu Deutschland hatte ich immer eine gewisse Affinität«, sagt der 44-Jährige. 1993 habe er einen »unvergesslichen Sommer als Austauschschüler in Sachsen-Anhalt verbracht«, erzählt er. Deutsch müsse er aber zur Zeit wieder völlig neu lernen. »Die Bürokratie gehört aber für mich nicht zu den guten deutschen Tugenden«, bekennt er mit einem matten Lächeln, während er die Unterlagen zu ordnen versucht.

In den Tagen nach dem russischen Angriff irrte Denis mit seiner ukrainischen Ehefrau durch Kiew. Er hatte sie im Ausland kennengelernt und war ein Jahr zuvor von St. Petersburg nach Kiew gezogen. Schon 2014 hatte er die Ereignisse auf dem Maidan mit Sympathie verfolgt und sich in Russland politisch engagiert, war mit der Politik des Kreml nicht einverstanden.

Was die Beziehung zu seiner Frau angeht, die aktuell im polnischen Kraków lebt, möchte er sich nicht äußern. Er erzählt aber, dass er sich der ukrainischen Armee habe anschließen wollen. Dort sei er aber abgelehnt worden, als Russe sei ihm natürlich mit Misstrauen begegnet worden. Er entschloss sich deshalb, mit seiner Frau über die Slowakei vor dem Krieg in Richtung Westen zu fliehen.

Denis Uvarov lebte als russischer Staatsbürger in Kiew.
Denis Uvarov lebte als russischer Staatsbürger in Kiew.

In Polen trennten sich dann die Wege des Paares. Während seine Frau blieb, zog er weiter nach Deutschland. »Ich kam am 8. März in Bochum an, in der Landeserstaufnahmeeinrichtung von Nordrhein-Westfalen«. Dort begannen bald die Probleme. Zunächst hatte die Bundesregierung versprochen, alle Personen, die sich zum Zeitpunkt des Kriegsbeginns legal in der Ukraine aufhielten, aufzunehmen, und zwar nach Paragraf 24 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Dieser besagt, dass, sofern der Europäische Rat sich auf einen vorübergehenden Schutzstatus für eine bestimmte Gruppe Geflüchteter geeinigt hat, den Betroffenen eine Aufenthaltserlaubnis gewährt wird.

»Anfangs bekamen viele, die keine ukrainische Staatsbürgerschaft hatten, einen Aufenthaltsstatus nach Paragraf 24. Sogar Studenten und Leute, die illegal in der Ukraine gelebt haben«, berichtet Uvarov. »Als ich ankam, wurde ich zunächst wie ein Flüchtling aus der Ukraine behandelt, ich verbrachte einen Monat in einem Lager in Soest, dann kam ich in die Gemeinde Lippetal. Dort bekam ich ein Zimmer und Sozialleistungen, aber meinen Aufenthaltstitel bekam ich nie.«

Nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges fand in der EU erstmals die sogenannte Massenzustromrichtlinie Anwendung. Der Europäische Rat fasste am 4. März einen entsprechenden Beschluss. Für diesen Fall gilt in der Bundesrepublik der erwähnte Paragraf 24 AufenthG. Er sollte auch den Aufenthalt für nicht-ukrainische Staatsbürger oder staatenlose Personen mit einem unbefristeten Aufenthaltstitel in der Ukraine regeln, die nicht sicher und dauerhaft in ihre Heimatländer zurückkehren können. Personen, die unter die Regelung fallen, erhalten einen humanitären Aufenthaltstitel, ohne ein Asylverfahren durchlaufen zu müssen.

»Mir wurde nur gesagt, ich solle warten. Ich habe gewartet, ich freute mich auf einen Integrationskurs, weil ich Deutsch lernen möchte«, erzählt Uvarov. »Aber am 27. Juli wurde ich für einen Termin in die Ausländerbehörde des Kreises Soest eingeladen, wo die Mitarbeiter, die mich interviewten, mir mitteilten, dass ich nicht für Paragraf 24 ›qualifiziert‹ sei, und wenn ich in Deutschland bleiben wolle und nicht nach Russland zurück, dann solle ich Asyl beantragen.«

Einen Tag später fuhr Uvarov zur Landesaufnahmeeinrichtung in Bochum. Dort versuchte er herauszufinden, warum er abgelehnt wurde. Unter anderem waren ihm Dokumente mit Informationen niemals ausgehändigt worden. »Ich fragte nach Paragraf 24, um eine offizielle Ablehnung zu erhalten. Der Kreis Unna hat das alles bedacht und mir eine sogenannte Fiktionsbescheinigung ausgestellt, also eigentlich mein Recht auf eine Aufenthaltsgenehmigung nach Paragraf 24 anerkannt.«

Uvarov berichtet, er sei anschließend nach Hamm in eine Herberge geschickt worden. Am 19. September sei er dort angekommen und sofort zur Ausländerbehörde gegangen. Dort habe man ihm ohne Begründung die Aufenthaltserlaubnis verweigert und ihm gesagt, er müsse wieder nach Bochum. »Aber auch da wurden mir keine Dokumente ausgestellt, obwohl ich mich ausdrücklich danach erkundigt hatte. Von Bochum wurde ich wieder ins Lager Unna geschickt, wo ich jetzt immer noch bin.«

Haroon meldet sich Wort. Er sei erst Anfang April aus Charkiw geflohen. Der Krieg sei schon davor spürbar gewesen: »Einschläge, Luftangriffe, Panik. Ich wohnte in einem kleinen Appartement, zusammen mit Oscar, meinem Hund. Ich blieb noch solange, obwohl schon viele der ausländischen Studierenden die Stadt verlassen hatten, weil ich meinen Master-Titel noch zu verteidigen hatte.« Aber als die Verwaltung der Universität infolge des Krieges nahezu zusammengebrochen war und die Situation immer schwieriger wurde, habe er sich mit seinem Hund auf den langen Weg in Richtung polnische Grenze gemacht.

Dort folgte für den jungen Pakistani der Schock: »Die polnischen Grenzbeamten mokierten sich über meinen Namen Osama, verdächtigten mich als Terrorist, bezweifelten, dass jemand wie ich aus dem ›Urwald‹ überhaupt studieren könne.« Diese rassistische Ungleichbehandlung war und ist für Zehntausende internationale Studenten aus der Ukraine, die nach Westen flüchteten, bittere Alltagserfahrung.

Mehr als 70 000 internationale Studierende gab es nach Angaben der Unesco zur Zeit des Kriegsausbruchs in der Ukraine. Rund 3000 von ihnen leben inzwischen in Deutschland. Seit ihrer Flucht fühlen sich viele wie Menschen zweiter Klasse. Beim Überqueren der Grenzen zur EU, ob in Polen, Ungarn oder der Slowakei, überall habe man sie anders und schlechter behandelt als Weiße mit ukrainischer Staatsbürgerschaft. Das verstößt auch gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des deutschen Grundgesetzes und gegen die UN-Menschenrechtskonvention sowie die UN-Konvention zur Abschaffung rassistischer Diskriminierung.

Haroon Osama suchte in Deutschland Schutz, weil er einen Onkel in Essen hat. Ein so plumper Rassismus, wie er ihn an der polnischen Ostgrenze erlebte, ist ihm in der Bundesrepublik bisher nicht begegnet. Dafür wird ihm auf administrativem Weg verdeutlicht, dass er ein Geflüchteter zweiter oder gar dritter Klasse ist. Dem Pakistaner geht es wie den meisten internationalen Studierenden in der Ukraine, die in Folge des Krieges nicht nur zu Flüchtlingen geworden sind , sondern auch ihrer Zukunftschancen beraubt wurden.

Der 29-Jährige weiß nicht, wie es mit seinem Leben weitergehen soll. Sein gesamtes Geld, die Ersparnisse seiner Familie, wurden in die Studiengebühren an ukrainischen Universitäten investiert, welche jetzt am Boden liegen. Ob er sein Studium in Deutschland fortführen und ob er überhaupt in Europa bleiben darf, ist aktuell höchst ungewiss.

Eine Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache sagte kürzlich im Deutschlandfunk, die Betroffenen seien traumatisiert und hätten nun noch zusätzlichen Druck, weil sie »hier nicht wie weiße, ukrainische Geflüchtete behandelt werden« und sich täglich fragen müssten: »Werde ich ausgewiesen? Muss ich in zwei, drei Monaten Deutschland verlassen?«

»Mir fehlt nicht mehr viel bis zum Master. Aber jetzt ist meine Uni geschlossen, niemand antwortet mehr. Und dabei habe ich alle meine Gebühren schon bezahlt. Alles Geld, das ich hatte, um in der Ukraine zu studieren, ist weg«, seufzt Haroon verzweifelt. Dazu belastet ihn, dass sein Hund Oscar in Deutschland in einem Tierheim gestorben ist. »Ich konnte ihn nicht mit in die Unterkunft nehmen«, erzählt er traurig.

Haroon und Denis, der Pakistani und der Russe, haben sich um einen Aufenthaltsstatus gemäß des Paragraphen 24 bemüht, auch in Ermangelung von Alternativen. Jetzt hängen sie in der Luft, denn es gibt für sie weder eine Bestätigung des Schutzstatus, noch haben sie eine offizielle Ablehnung erhalten. Das eine ihn und Haroon, sagt Denis. »All dies geschieht in verschiedenen Städten von Nordrhein-Westfalen. Wir können daraus schließen, dass dies ein System ist und nicht der persönliche Fehler von jemandem. Wir bedauern sehr, dass Deutschland seine Zusagen zur Hilfe für Flüchtlinge aus der Ukraine nicht vollständig erfüllt.«

Die beiden Männer sind erschöpft, demoralisiert, deprimiert. »Wir fühlen uns verlassen und betrogen«. sagt Uvarov. »Neun Monate nach der Ankunft in Deutschland haben wir praktisch nichts, wir leben in Ungewissheit, in Unsicherheit und haben unsere moralischen Ressourcen aufgebraucht. Wir haben nichts schlecht gemacht und haben die ganze Zeit alle Gesetze befolgt und erwarten, fair behandelt zu werden«, fordert er. »Aber immerhin bist Du ein Flüchtling aus der Ukraine zweiter Klasse, während ich einer dritter Klasse bin«, meint Haroon Osama traurig lächelnd.

Zwischen Ende Februar und dem 13. Dezember wurden nach Angaben des Bundesinnenministeriums 1,036 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine im Ausländerzentralregister (AZR) registriert. Rund 96 Prozent von ihnen sind ukrainische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Derzeit befinden sich demnach rund 37 000 Kriegsflüchtlinge ohne ukrainische Staatsbürgerschaft in der Bundesrepublik. 14 400Drittstaatenangehörige aus der Ukraine haben bis zum 24. September in Deutschland vorübergehenden Schutz nach der sogenannten Massenzustrom-Richtlinie erhalten.

Kurz vor Weihnachten wurden Denis Uvarov und Haroon Osama innerhalb Nordrhein-Westfalens in andere Unterkünfte verlegt, weit voneinander entfernt. Uvarov lebt jetzt im sauerländischen Wenden und Haroon in Selm. Am Telefon berichten beide von ihren Erfahrungen.

Denis hofft auf einen militärischen Sieg der Ukraine, um dann nach Kiew zurückkehren zu können. Doch immer stärker breitet sich in ihm auch die Erkenntnis aus, dass dieses möglicherweise so nicht geschehen wird. Ihm wurde signalisiert, dass zumindest sein Asylantrag demnächst genehmigt werden könnte, denn nach Russland kann er zur Zeit nicht zurück.

Haroon befindet sich in einer umzäuntem Unterkunft, weit vom Stadtzentrum von Selm entfernt. Er hat inzwischen jegliche Hoffnung aufgegeben, dass er ein Aufenthaltsrecht nach Paragraf 24 bekommt. Auch Asyl wird er wohl nicht erhalten. Inzwischen ist er darum bemüht, sein Studium in Deutschland abschließen zu können und den dazu gehörigen Status zu erlangen. Eine Rückkehr nach Pakistan kann er sich nur schwer vorstellen. Seinen Hund Oscar vermisst er noch immer.

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