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Streiken für die Gesundheit
Neben höheren Löhnen geht es bei den Arbeitsniederlegungen in Großbritannien auch um den desolaten Zustand des Gesundheitsdienstes
Bloß keinen Kontaktsport betreiben. Joggen geht gerade noch, außer es ist eisig auf den Straßen. Auf »unnötige Autofahrten« verzichten – und sich auf keinen Fall besaufen. Kurzum: Am Mittwoch sollten die Briten nichts tun, was zu Verletzungen führen könnte. So hatte die britische Regierung Anfang dieser Woche gewarnt. Grund war der Streik des National Health Service (NHS), des Rettungsdienstes in England und Wales. Zum ersten Mal seit 30 Jahren sind Sanitäter, Techniker sowie Angestellte in den Kontrollzentralen in den Ausstand getreten, um höhere Löhne zu fordern.
Die Warnungen der Regierung vor den Folgen des Streiks waren dramatisch und ihre Rhetorik überaus scharf. »Die Rettungsdienst-Gewerkschaften haben die bewusste Wahl getroffen, den Patienten Schaden zuzufügen«, schrieb Gesundheitsminister Stephen Barclay in einer Zeitungskolumne. Die Gewerkschaften waren empört über solche Verbalattacken. Sie verwiesen darauf, dass ein Minimalbetrieb beibehalten wurde und der Rettungsdienst in dringenden Fällen weiterhin ausrückte. Tatsächlich sah man am Mittwoch Streikposten, die fast leer waren. Weil alle Sanitäter im Einsatz waren, Streik hin oder her.
Aber die Gewerkschaften verdeutlichten noch etwas anderes: Sie betonten, dass es den streikenden NHS-Angestellten gerade darum gehe, langfristig für die Sicherheit der Patienten zu sorgen. Wenn die Regierung heute den Leuten wegen des Streiks davon abrate, Fußball zu spielen, dann sollte sie diese Warnung eigentlich 365 Tage im Jahr ausgeben, sagte Sharon Graham, Generalsekretärin der Gewerkschaft Unite – so schlimm stehe es um den Notfalldienst.
Wie der Rest des Gesundheitssystems leidet der Notfalldienst unter einem akuten Mangel an Mitarbeitern – Stress und Überarbeitung führen dazu, dass viele Leute einen anderen Job suchen. In den zwölf Monaten bis Juni 2022 verließen zehn Prozent der Rettungssanitäter den NHS; laut einer Umfrage würde sich ein Viertel einen anderen Job suchen, wenn sich die Möglichkeit dazu ergäbe. Insgesamt fehlen im NHS 3000 Rettungssanitäter.
Der Personalmangel hat drastische Folgen: Heute braucht eine Ambulanz im Durchschnitt doppelt so lange wie vor zwei Jahren, um zu den Patienten zu gelangen. In jenen Fällen, wo Lebensgefahr besteht, sollte der Rettungsdienst innerhalb von sieben Minuten bei einem Patienten sein – aber derzeit dauert es im Durchschnitt fast zehn. »Uns fehlen Fahrzeuge und Mitarbeiter, und wir werden so oft gerufen, dass wir zu spät ankommen«, sagte Dave Robb, der im Notfalldienst im Nordwesten Englands arbeitet, gegenüber der BBC. »Wenn wir da sind, sind die Patienten schon tot.« Das wirke sich auch auf die Moral der Rettungssanitäter aus – noch nie sei die Stimmung so mies gewesen. Tatsächlich zeigen Statistiken, dass Angestellte des Rettungsdienstes zunehmend mit psychischen Problemen zu kämpfen haben.
Dazu kommen die Engpässe in den anderen Bereichen des Gesundheitsdienstes: Wenn die Ambulanzen mit Patienten vor den Krankenhäusern vorfahren, müssen sie oft stundenlang warten, weil keine Betten frei sind. Der NHS hat heute fast 25 000 weniger Betten als noch vor zehn Jahren. Um die gegenwärtigen Probleme in den Griff zu bekommen, seien mindestens 13 000 zusätzliche Betten nötig, schrieb der Berufsverband Royal College of Emergency Medicine bereits im Sommer.
Die Covid-Pandemie hat die Probleme im NHS verschärft. Dass unzählige Behandlungen und Operationen in den vergangenen drei Jahren aufgeschoben wurden, hat zu einem riesigen Rückstau geführt: Rund sieben Millionen Menschen in Großbritannien warten darauf, behandelt zu werden – in vielen Fällen sind es Routineoperationen an Knien, Hüften oder Augen.
Aber Gesundheitsexperten sagen: Die Pandemie ist keine Ausrede. »Zwar hat Covid sicherlich die Krise im NHS und in der Sozialfürsorge verschlimmert, aber letzten Endes zahlen wir jetzt den Preis für ein Jahrzehnt der Vernachlässigung«, sagt Richard Murray, Vorsitzender des Thinktanks King’s Fund, der auf Gesundheitspolitik spezialisiert ist. Ein neues Arbeitspapier des King’s Fund ist zu dem Schluss gekommen, dass die konservativen Regierungen den Gesundheitsdienst in Grund und Boden gespart haben. Wurde das NHS-Budget unter der Labour-Regierung bis 2010 um jährlich 3,6 Prozent erhöht, waren es danach im Durchschnitt gerade mal 1,5 Prozent. Die Folgen: zu wenig Personal, zu wenig Ausrüstung, zu viele alte Gebäude mit zu wenig Kapazität.
Die Streiks im Gesundheitssektor – neben den Rettungssanitäterinnen streiken auch die Pfleger – sind nicht zuletzt ein Versuch, den endgültigen Kollaps des NHS abzuwenden. Dazu ist ein angemessener Lohn unabdingbar, um genügend Mitarbeitende zu rekrutieren. Die Regierung hat den rund 1,4 Millionen NHS-Angestellten, darunter auch den Rettungssanitätern, eine Lohnerhöhung von etwa vier Prozent angeboten. Aber die Angestellten fordern deutlich mehr: Die Inflation liegt bei über zehn Prozent, und die Lohnerhöhung sollte diesem Anstieg Rechnung tragen, sagen sie.
Im Laufe der Streiks haben es die NHS-Angestellten geschafft, ihre Lohnforderungen in den breiteren Zusammenhang der Krise im Gesundheitswesen einzubetten – der Kampf für angemessene Bezahlung ist Teil des Kampfes für einen funktionierenden NHS. Das dürfte auch ein Grund sein, weshalb die Streikenden auf die überwältigende Unterstützung der Bevölkerung zählen können. Laut einer neuen Umfrage stehen rund zwei Drittel der Öffentlichkeit hinter den Rettungssanitätern und Pflegern – und eine Mehrheit macht die Regierung dafür verantwortlich, dass die Streiks stattfinden. Noch gibt diese sich hart und lehnt Lohnverhandlungen ab. Aber man würde nicht darauf wetten wollen, dass sie die Konfrontation mit den Gewerkschaften gewinnt.
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