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Vom Gips zu Stein und Beton
Nicht erst seit dem Konflikt um den Molkenmarkt wird für die Wiederauferstehung eines »Alt-Berlin« lobbyiert – Ein Gastbeitrag von Philipp Krüpe
Rückblick 1990: Der Eiserne Vorhang ist gefallen, Deutschland ist wiedervereint und Berlin erneut zur Hauptstadt erklärt. Schnell entfachen sich Debatten darüber, wie mit dieser fragmentarischen Stadt stadtplanerisch und architektonisch umzugehen ist. Aus der Bundespolitik wird der Wille deutlich, dass diese Weichenstellung nicht nur die Architektur und die Stadtplanung berührt, sondern auch eine erinnerungspolitische Funktion zu erfüllen habe. In dieser Diskussion setzte sich eine konservative Fraktion durch, die durch leitplanerische Vorgaben an ein Stadtbild von vor 1945 anknüpfen will, wovon nicht zuletzt die 2020 fertiggestellte Teilrekonstruktion des Hohenzollernschlosses zeugt.
Betroffen waren von Anfang an auch jene Gebiete Alt-Berlins, auf denen sich bis zur Zerstörung im Zweiten Weltkrieg Teile der im Mittelalter begründeten Altstadt befanden und wo es zu DDR-Zeiten zu großmaßstäblichen Umbauten kam. Auch wenn es in den vergangenen Jahren Versuche gab, die Leitplanungen der 1990er Jahre zu entschärfen und die dortigen Bebauungsverfahren durch Öffentlichkeitsbeteiligung zu demokratisieren, findet aktuell ein Rollback der Entwicklung zugunsten einer historisierenden Altstadt-Bebauung statt.
Neben der Ende 2021 ins Amt gehobenen Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt (parteilos, für SPD) spielen hier nicht zuletzt lokale Geschichtsvereine eine zentrale Rolle. Um auf ihr Anliegen öffentlichkeitswirksam hinzuweisen, organisiert diese finanziell gut ausgestattete Lobbygruppe Stadtführungen, Festivals und Ausstellungen und vertreibt Publikationen. Ohne denkmalpflegerische Not wollen sie auf Grundlage des mittelalterlichen Stadtgrundrisses möglichst viele Bauten rekonstruieren.
Die Vereine betonen bei jeder Gelegenheit, wie unpolitisch ihre Anliegen sind und dass es ihnen lediglich um ein schönes Bild der Stadt geht. Blickt man nun in die Mediengeschichte der jüngeren Architekturtheorie, fällt auf, dass derartige Bestrebungen nichts Neues sind – aber, anders als behauptet, von Beginn an politische Brisanz hatten.
Die rechte Politisierung des Bildhaften
Altstadt-Befürworter*innen hantieren letztlich nahezu ausnahmslos mit dem Begriff »des Bildes«, wenn sie die historischen Stadträume beschreiben wollen. Der Verein Stadtbild Deutschland trägt den Begriff bereits im Namen. Eine Vertreterin des Vereins Berliner Historische Mitte monierte zuletzt, dass Berlin »das« Bild einer Stadt fehle. Die Stiftung Mitte Berlin lieferte diese Bilder, indem sie aufwendige Architekturrenderings in Auftrag gab, auf denen der vermeintliche Architekturbestand von 1928 rund um den Molkenmarkt zu sehen war – inklusive zeitgenössischem Straßenleben. Ein Aktivist, seines Zeichens Architekt und Maler zugleich, publizierte einen Berlin-Bildband mit historisch-pittoresken Stadtporträts, die er mit unvorteilhaft aufgenommenen Fotografien »moderner« Architektur kontrastiert.
Nun fällt beim Blick in die Mediengeschichte der Architekturtheorie auf, dass das Bildhafte oder meist synonym verwendete Begriffe wie »das Malerische« und »das Pittoreske« seit dem Zeitalter der europäischen Industrialisierung eine Rolle spielen – und sich parallel zur Kritik an den Auswüchsen der wachsenden Großstädte entwickelte. Damalige Protagonist*innen suchten das Heil auf dem Land und in den Kleinstädten, bei deren Hochstilisierung sie Aspekte des Bildhaften in den Fokus nahmen. Architektur wurde im nostalgischen Gestus als ein zweidimensionales Bildprogramm interpretiert, das statt den realen sozialen Umständen einen retrospektiv verklärenden Schein als Ausgangspunkt der Planung nahm.
Räumliche Situationen sollten zudem auf die Betrachter*innen affektiv moralisierend wirken, um einem erzieherischen Auftrag im Sinne der Heimatverbundenheit nachzukommen. Der Trend erreichte nicht zuletzt Deutschland und entwickelte sich spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge der Formierung des Deutschen Kaiserreichs zu einem rechtsnationalistischen Architektur- und Stadtbauprogramm. Deutlich wird dabei, dass der Aspekt der Nutzung von Bauwerken in diesem Architekturprogramm eine untergeordnete Rolle spielte. Es handelte sich in erster Linie um eine Medienstrategie, die sich – getrieben durch einen Bildungsauftrag – wunderbar in die vorherrschende rechtsnationale Politikkommunikation einbetten ließ.
1896 kam der affektive Mediencharakter des Bildhaften auf besonders beeindruckende Weise zum Tragen. Zu dieser Zeit rangen die europäischen Kolonialmächte um die globale Vorherrschaft. Um die nationale Potenz medial zu demonstrieren, wurden internationale Weltausstellungen organisiert. Die deutsche Version eröffnete 1896 in Berlin unter anderem mit der sogenannten Gewerbeausstellung, auf der die militärische und ökonomische Macht und das Fortschrittsstreben der jungen Nation präsentiert wurden.
Die Veranstalter*innen scheinen gewusst zu haben, dass dem Fortschrittsparadigma auch ein kulturell-moralisierender Aspekt hinzugefügt werden muss, weshalb in direkter Nachbarschaft zeitgleich weitere Teilausstellungen stattfanden. Zum Programm gehörte dabei zum einen die zutiefst rassistische und menschenverachtende Kolonialausstellung mit ihren Völkerschauen. Zum anderen wurde die Ausstellung »Alt-Berlin« organisiert – und zwar vom Verein für die Geschichte Berlins.
Damals engagierten sich Geschichtsvereine für den Erhalt der mittelalterlichen Altstadt, da bereits zu dieser Zeit Teile Alt-Berlins zugunsten großformatiger Planungen weichen mussten. »Alt-Berlin« war, vergleichbar mit der Kolonialausstellung, als eine Art Freilichtmuseum angelegt: Geschichte wurde über eine aus Gips errichtete Stadtstruktur vermittelt, die – ohne Anspruch auf bauhistorische Genauigkeit – an das Berlin im Spätmittelalter erinnern sollte.
Das damit eng verbundene Konzept des Bildhaften spielte hier eine außerordentliche Rolle, denn es schaffte ein nostalgisches und nach innen gerichtetes Nationalgefühl, das keinerlei aufklärende Funktion im Sinne einer kritischen Vermittlung von Geschichte besaß. Es diente in erster Linie als mediales Kontrastmittel zum industriell-kapitalistischen Wachstumsstreben der Gewerbeausstellung und zur politischen Bestimmung des Subalternen im Zuge der Kolonialausstellung.
Rechtsidentitäre versus offene Erinnerungsarchitektur
Bemerkenswert ist, dass sich die Vermittlungsmethodik der Geschichtsvereine seit 126 Jahren kaum verändert hat. Sowohl die damalige Ausstellung »Alt-Berlin« als auch die aktuellen Rekonstruktionsbestrebungen lassen sich ideal in die Medienstrategie rechter Kräfte integrieren, in denen (gebaute) Erinnerungspolitik als autoritär-identitäres Propagandaprojekt funktioniert und der nationalen Moral dient.
Deutlich wird, dass eine sich auf das Bildhafte stützende Erinnerungsarchitektur keine Antworten auf die sozialen und ökologischen Fragestellungen unserer Zeit bietet und sich ohnedies nicht als mediale Strategie für eine offene Erinnerungskultur eignet, in der die diverse Geschichte Berlins erzählt wird. Eine widersprüchliche Geschichte, die auch von kolonialen Spuren, sogenannten Arisierungen, Zerstörung, ideologischen Systemen und politischem Widerstand handelt.
Ende des 19. Jahrhunderts konnte man vorerst froh sein, dass sich die gipserne Kulissen-Architektur der Ausstellung »Alt-Berlin« durch starken Regen unansehnlich auflöste und nach Ausstellungsende schnell abgebaut wurde. Das dürfte sich heute schwieriger gestalten. Denn wenn wir uns den aktuellen Rekonstruktionsbemühungen nicht entschlossen gegenüberstellen, werden wir in ein paar Jahren eine aus Stein und Beton gebaute Erinnerungskultur vorfinden, in der die rekonstruierten Fassaden des Humboldtforums lediglich den Anfang darstellen werden.
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Philipp Krüpe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Grundlagen moderner Architektur der Universität Stuttgart. Er publiziert und arbeitet zu architektur- und medientheoretischen Themen. Zusammen mit Stephan Trüby verantwortet er das Forschungsprojekt »Rechte Räume«.
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