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Spaniens Systemkrise nimmt Fahrt auf
Verfassungsgericht torpediert erstmals ein laufendes Gesetzgebungsverfahren
In Spanien tobt ein offener Machtkampf zwischen rechts dominiertem Verfassungsgericht und der Mitte-links-Regierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez. Regierungsmitglieder sprechen von einem »Golpe« (Putsch) oder »Justizputsch«, nachdem das Verfassungsgericht erstmals ein laufendes Gesetzgebungsverfahren im Parlament gestoppt hatte. Dass die Debatte und der definitive Beschluss der Reform zur Erneuerung der Richter im Verfassungsgericht am heutigen Donnerstag in der zweiten Lesung im Senat untersagt wurde, nennt die Podemos-Vorsitzende Ione Belarra einen »nie dagewesenen Staatsstreich«. Podemos ist als Teil von Unidas Podemos Juniorpartner der Regierung. Das Reformvorhaben war am vergangenen Freitag mit großer Mehrheit schon im Parlament angenommen worden.
Die Regierung will die Entscheidung des Gerichts respektieren, obwohl auch hochrangige Juristen von einem »Delikt« und von »Amtsmissbrauch« sprechen. Pedro Sánchez, der die Reform wenig ruhmreich über Änderungsanträge in die Strafrechtsreform eingebunden hat, kündigte nun ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren an. »Die Regierung wird die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um der Blockade der Justiz und des Verfassungsgerichts ein Ende zu setzen.« Ob dafür bis zu den Wahlen im November 2023 genug Zeit bleibt, nachdem man drei Jahre verstreichen ließ, ist fraglich.
Dass das Verfassungsgericht ein Gesetzgebungsverfahren abgebrochen hat, mit dem die verfassungsmäßige Ordnung wiederhergestellt werden sollte, macht für Joaquín Urias das »Abdriften des Verfassungsgerichts« noch deutlicher. »Wir wissen seit Montagnacht, dass wir ein Organ haben, das sich Verfassungsgericht nennt, aber wir wissen nicht, ob wir noch eine Verfassung haben«, meint der Professor für Verfassungsrecht. Auch sein Kollege Javier Pérez Royo ist entsetzt. Er wirft vor allem dem Verfassungsgerichtspräsidenten Pedro González Trevijano ein »Delikt« vor. Er spricht von einer »Unverschämtheit« des Präsidenten. Seine »mangelnde Unparteilichkeit« sei daran deutlich geworden, dass er sich an Abstimmungen mit »unmittelbarem Eigeninteresse« beteiligt hat.
Verfassungsgerichtspräsident González Trevijano und ein ebenfalls von der PP ernannter Kollege stehen im Rampenlicht der Kritik, da ausgerechnet mit ihren Stimmen Befangenheitsanträge gegen sie mit sechs zu fünf Stimmen abgelehnt wurden. Diese beiden Richter verfügen nach mehr als neun Jahren im Amt und dem Ablauf der Neubesetzungsfrist über kein legales Mandat mehr, was verfassungswidrig ist. Mit ihren Stimmen sorgten sie schließlich auch dafür, dass in die Gewaltenteilung und die Souveränität des Parlaments eingegriffen wurde, zwei zentrale Pfeiler einer Demokratie. Gekippt wurde so eine Reform, wonach die Verfassungsrichter nicht mehr mit einer Drei-Fünftel-Mehrheit bestimmt werden, sondern nur noch mit einfacher Mehrheit. Damit sollte der rechten Volkspartei (PP) die Blockademöglichkeit genommen werden. Diese setzt sie seit Jahren auch im Kontrollrat (CGPJ) ein, der seit fast fünf Jahren verfassungswidrig nur noch geschäftsführend im Amt ist, weil die PP eine Neubesetzung blockiert.
Eigentlich, so erklären Juristen, kann ein Verfassungsgericht auf Basis einer Klage ein beschlossenes Gesetz nur im Nachhinein für verfassungswidrig erklären. Doch nun wurde es präventiv tätig, da sonst die PP die Kontrolle über das höchste Gericht verloren hätte. »Die PP will das Parlament kontrollieren, ob sie eine Mehrheit hat oder nicht«, erklärte dazu der sozialdemokratische Präsidialamtsminister Félix Bolaños. Jetzt kann die PP weiter über das Verfassungsgericht Gesetze der Regierung kippen, ohne über eine Mehrheit im Parlament zu verfügen.
Ein »Präzedenzfall« wie Bolaños sagt, ist das Vorgehen des Verfassungsgerichtes jedoch nur in Bezug auf das Madrider Parlament. Denn 2017 hat das Verfassungsgericht, damals auch mit Beifall von Sánchez und seiner PSOE, Debatten und Beschlüsse im katalanischen Parlament verboten. Da die damalige Gerichtspräsidentin Carme Forcadell sie trotz allem zuließ, wurde sie wegen angeblichen Aufruhrs zu 11,5 Jahren Haft verurteilt.
Die spanischen Rechten und Ultrarechten wollten die gesamte Strafrechtsreform stoppen, um auch die Streichung des Aufruhr-Paragrafen zu verhindern. Laut der spanischen Regierung soll die Rechtslage an die in der EU angepasst werden. Einher geht damit real eine Ausweitung der Repression, da der schwammige Begriff »Einschüchterung von Personen oder Sachen« eingeführt wird, wie breit kritisiert wurde. Für den neuen Straftatbestand der »schweren Störung der öffentlichen Ordnung« drohen nun bis zu fünf Jahre Haft, für Aufruhr bis zu 15. Reformiert werden soll auch der Straftatbestand »Veruntreuung«. Wenn es wie beim Referendum in Katalonien keine persönliche Bereicherung gibt, sollen die Strafen nur noch höchstens vier Jahre betragen.
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