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»Die absurdeste Vorstellung kann gefährlich werden«
Wann werden Aberglaube und Esoterik gefährlich? Im Interview spricht Katharina Nocun über die Attraktivität des Wunderglaubens
Frau Nocun, zu Silvester begegnen uns allerhand mystische Vorstellungen: böse Geister mit Feuerwerk vertreiben, mit Bleigießen in die Zukunft schauen. Ist das harmloser Aberglaube?
Mit Silvester endet die Zeit zwischen den Jahren, es ist die Zeit der Wunder und des Aberglaubens. Da schlechte Zeiten Aberglauben nähren und die Zeiten vorerst wohl nicht besser werden, werfen wir in unserer Silvesterausgabe einen Blick auf den boomenden Markt für Esoterik und Heilkristalle, untersuchen die Verbindung von Aberglauben zu rechtem Gedankengut und lassen Theodor W. Adorno den Kapitalismus aus Horoskopen erklären.
Alle Texte unter: dasnd.de/aberglaube.
Nun ja, die meisten Leute zünden nicht deshalb Feuerwerk an, weil sie Geister vertreiben wollen. Es macht ihnen einfach Spaß oder sie finden, es sieht schön aus. Auch würde kaum jemand ernsthaft die Frage, ob man sich scheiden lässt oder auf einen anderen Job bewirbt, dem Bleigießen überlassen. Der Aberglaube wird dann nicht mehr harmlos, wenn Leute wichtige Lebensentscheidungen von so etwas abhängig machen. Im Falle von Silvestertraditionen ist das eher selten, aber es gibt Menschen, die Anfang des Jahres zur Kartenlegerin gehen und sich ihre Zukunft vorhersagen lassen. Wenn dabei herauskommt, man solle seine Beziehung beenden, sich beruflich umorientieren oder eine Folgeberatung für 1000 Euro buchen, ist das problematisch.
Welche Rolle spielt denn Aberglaube in unserer Gesellschaft?
Aberglaube ist in der Bevölkerung schon ziemlich weit verbreitet. Es gibt dazu eine interessante Studie aus dem Jahr 2020, nach der nur 6,8 Prozent der Menschen fest daran glauben, dass ein Glücksbringer wirklich Glück bringt. Das ist eine verschwindende Minderheit. Allerdings sagt über ein Drittel der Bevölkerung, es könne ja trotzdem etwas dran sein. Auch hier wird ein Glücksbringer in den meisten Fällen keinen Schaden anrichten. Aber der Übergang von harmlosem Aberglauben hin zu gefährlicher Esoterik ist fließend. Entscheidend dafür ist oft, in welcher Situation sich der Mensch befindet und welches Gewicht der Aberglaube darin bekommt: ob es lediglich irgendein Talisman von der Mutter oder Oma ist, mit dem man schöne Erinnerungen verbindet, oder ob sich jemand, der Krebs hat, einen Heilstein kauft und glaubt, dieser ließe ihn jetzt gesund werden. Dann wird es schnell lebensgefährlich.
Zählen zu diesen Umständen auch gesellschaftliche oder persönliche Krisensituationen?
Zunehmender Glaube an Esoterik kann auf jeden Fall auch ein Krisenphänomen sein. Vor allem Menschen in Notsituationen sind besonders anfällig für ausbeuterische Angebote, mit denen Esoterikanbieter in existierenden Krisen ein Geschäft machen. Geistheiler haben während der Pandemie behauptet, Menschen gegen das Coronavirus immunisieren zu können und haben ihre vermeintlichen Fernheilungskräfte über das Internet angeboten. Zudem sind gesellschaftliche Krisen oft auch ein Katalysator für private Notlagen. Diese Erfahrung haben leider viele Menschen während der Corona-Pandemie machen müssen. Einige verspüren dann ein besonders starkes Bedürfnis nach einer gewissen Form von Ordnung und jemandem, der sie an die Hand nimmt. Gerade wenn Menschen eine Krise durchleben, sind sie auch offener dafür, sehr radikale Veränderungen vorzunehmen. Wenn ihnen jemand dann drastische Vorschläge macht, sind sie plötzlich eher bereit, diese auszuprobieren. Ganz so einfach lässt sich ein Zusammenhang zwischen Krisen und Esoterikangeboten aber nicht messen, denn der Markt ist extrem schwierig zu überblicken. Es gibt kaum verlässliche Zahlen dazu. Das liegt auch an den vielen vermeintlichen Grauzonen. Es gibt durchaus Esoterikbereiche, die zumindest in Teilen der Gesellschaft akzeptiert sind, wie etwa die Homöopathie. Solche Produkte sind in der Apotheke erhältlich und werden von vielen Krankenkassen erstattet.
Warum ist die Bereitschaft zum Aberglauben so groß? Was macht Esoterik so anziehend?
Man muss sich klarmachen, dass Esoterik – ähnlich wie auch Verschwörungsdenken – an menschlichen Bedürfnissen andockt. Und die haben wir alle. In Zeiten gesellschaftlicher oder persönlicher Unsicherheit kann Esoterik einem das Gefühl geben, dass es eine Art Bauplan der Welt gibt, den man mit einer vermeintlichen Geheimlehre studieren könne. Die Esoterik lockt mit der Illusion von Sicherheit einer vorhersehbaren Zukunft. Und sie gibt einem das Gefühl von Kontrolle. Es heißt, man könne den Bauplan der Welt auch beeinflussen, indem man etwa Rituale vollführt. Schließlich ist auch das elitäre Gefühl des Auserwähltseins reizvoll, also zu glauben, zu den wenigen zu gehören, die Zugang zu einer höheren Wahrheit haben. Einige Wissenschaftler*innen sprechen dabei von einer spirituellen Überheblichkeit. Es geht dann gar nicht so sehr darum, eine spirituelle Wahrheit zu finden, sondern um Selbstüberhöhung und sehr egoistische Ziele. Gerade das Bedürfnis nach Kontrolle und persönlicher Aufwertung macht die Esoterik für einige Menschen zu einem unglaublich attraktiven Angebot.
Der Aspekt der Selbstaufwertung ist spannend, denn man könnte ja auch annehmen, dass es eher um Unterwerfung geht, wenn Menschen an Schicksalskräfte und höhere Mächte glauben.
Ja, aber hier liegt vielleicht einer der Unterschiede zum Glauben in den Weltreligionen. In der Esoterik wird weniger nach einer Erleuchtung von außen als nach dem Göttlichen in sich selbst gesucht: die Yoga-Göttin in mir oder meine spirituell gereinigte Gebärmutter, die Superkräfte verleiht, und so weiter. Es gibt unzählige kuriose Angebote und den Leuten werden aberwitzige Versprechen gemacht. Der Aspekt der Unterwerfung spielt eher in Sekten und Psychogruppen eine Rolle, wo ein Medium oder ein Guru auftritt und behauptet: Wenn du mir gehorsam folgst, dann führe ich dich zu deiner eigenen Göttlichkeit und Vervollkommnung. Das Endversprechen ist also nicht die Unterwerfung, sondern selbst quasi zur Gottheit zu werden. Esoterik wird auch oft als links missverstanden, als antiautoritär. Aber gerade Psychogruppen, etwa im Zuge der 68er-Bewegung und des New Age, weisen teils hochgradig autoritäre und antidemokratische Strukturen auf.
Wie hat sich das gesellschaftliche Verhältnis zur Esoterik entwickelt? Gibt es da eine historische Konstante?
Esoterik ist natürlich kein neues Phänomen. Wie gesagt, sie spielte etwa in der 68er-Bewegung eine Rolle. In diesem Umfeld sind auch Gruppen entstanden, die kaum mehr für gesellschaftliche Belange eingetreten sind, weil sie primär die spirituelle Selbstfindung gepredigt und ihre Anhänger*innen teilweise sehr stark isoliert haben. Auch in der Wirtschaftskrise der 1920er Jahre gab es in Deutschland einzelne – aus heutiger Sicht würde man sagen – Hippie-Kommunen, die ein spirituelles neues Leben mit FKK-Kultur verbanden. Ich selbst bin in den 90er Jahren mit Nachmittags-Talkshows aufgewachsen, in denen ganz selbstverständlich ab und zu eine Wahrsagerin befragt wurde. Und wenn ich ein Freundschaftsarmband gekauft habe, konnte ich in der Boutique kleine Zettelchen an den Regalen sehen, auf denen stand, welcher Edelstein welches Gefühl stärken soll. Horoskope gab es in Tageszeitungen schon lange und sie sind auch heute noch vielerorts zu finden. Die Mehrheit nimmt das nicht allzu ernst, aber es kann trotzdem ein erster Berührungspunkt für Menschen sein, um Astrologie zu praktizieren. Ein paar Jahre später optimieren sie womöglich mithilfe eines Börsenastronomen ihre Finanzen am Stand der Sterne und riskieren die Privatinsolvenz.
In der Reichsbürgerszene oder bei den Corona-Protesten fiel immer wieder die Verbindung zur Esoterik auf. Welche Rolle spielt diese in der Rechten?
Bei der jüngsten Reichsbürger-Razzia wurden auch Menschen aus dem Esoterikmilieu festgenommen und viele haben sich gewundert, was denn irgendwelche Hellseher mit Rechtsextremisten zu tun hätten. Aber in diesem Milieu gab es schon immer Anknüpfungspunkte zum Esoterikspektrum. Peter Fitzek, der auch als »König von Deutschland« bekannt wurde, hat sich 2020 nachweislich mit dem Querdenken-Organisator Michael Ballweg getroffen, möglicherweise um Schnittmengen der Bewegung zu besprechen. Ganz klar: Braune Esoterik war schon immer Teil der rechten Szene und weite Teile des Esoterikmilieus haben stets ein Problem damit gehabt, sich nach rechts abzugrenzen. Auf Esoterikmessen sieht man immer wieder rechtsoffene bis rechtsextreme Buchverlage und Akteure. Die Anschlussfähigkeit ist kein Zufall, denn es gibt Spielarten der Esoterik – wie etwa die Ariosophie, die sich von der Theosophie abgespalten hat –, die tatsächlich ein stark rassistisches und antisemitisches Weltbild vermitteln. Davon haben sich einige Kreise der Esoterik bis heute nicht glaubwürdig distanziert. Auch der Antifeminismus spielt in der Esoterik eine große Rolle und ist nach rechts anschlussfähig. Oft stehen Frauen zwar im Mittelpunkt und werden direkt angesprochen, wenn man sich aber das Kleingedruckte anschaut, findet sich ein ziemlich traditionelles, antiemanzipatorisches und antimodernes Frauenbild. So findet auch Hetze gegen trans Personen oder LGBTIQ-Communities Zuspruch in Teilen der Esoterikszene, weil die spirituelle Ordnung selbsternannter Gurus oder Medien vorgibt, dass es nur zwei Geschlechter geben kann.
Wie sollte dann diesem »gefährlichen Glauben«, wie sie es in ihrem Buch nennen, gesellschaftlich begegnet werden?
Ein ganz konkreter Ansatzpunkt wäre, im Gesundheitswesen eine stärkere Trennung zwischen Medizin und Esoterik vorzunehmen und diese nicht als Kassenleistung anzuerkennen. Selbst wenn sich manche Menschen durch einen Placeboeffekt besser fühlen, entsteht durch esoterisch geprägte Produkte wie beispielsweise Homöopathika über die Zeit ein gefährlicher Lerneffekt. Man denkt: »Wenn die Krankenkasse das bezahlt, dann muss es ja eine Wirkung haben, oder?« Und so vertraut man vielleicht irgendwann auch bei immer schlimmeren Krankheiten oder Symptomen auf wirkungslose Zuckerkügelchen. Das halte ich für brandgefährlich. Schließlich würde ich mir aber auch insgesamt stärkere Aufklärung wünschen. Solche Debatten, ob etwa Reichsbürger mit ihrem Hang zur Esoterik nur harmlose Spinner seien, sollten eigentlich nicht mehr geführt werden müssen. Auch in der NS-Führungsriege waren Akteure, die sich vom Hellseher über den Fortgang des Krieges beraten ließen. Das hat die NSDAP nicht weniger gefährlich gemacht. Den Menschen sollte mehrheitlich klar sein, dass selbst die absurdesten Vorstellungen äußerst gefährlich werden können.
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Katharina Nocun ist Publizistin, Bürgerrechtlerin und Netzaktivistin. 2013 war sie Geschäftsführerin der Piratenpartei. Zuletzt veröffentlichte sie gemeinsam mit Pia Lamberty das Buch »Gefährlicher Glaube. Die radikale Gedankenwelt der Esoterik«, Quadriga Verlag, 304 S., 22 €.
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