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- Aberglaube und Alternativmedizin
Das Geschäft mit der Angst
Schwere Krankheiten machen empfänglich für falsche Versprechen und Hokuspokus
In Situationen, in denen man auf eine unangenehme Nachricht wartet und gegen jede Wahrscheinlichkeit hofft, dass es vielleicht doch nicht so schlimm wird, haben sich wahrscheinlich sogar die härtesten Atheist*innen schon mal bei einem Stoßgebet ertappt, bei einer Anrufung vielleicht nicht eines Gottes, an den man nicht glaubt, aber vielleicht des Schicksals, an das man auch nicht glaubt? Kann bitte irgendjemand oder irgendetwas dafür sorgen, dass es nicht so schlimm wird und dass die verdammte Warterei endlich vorbei ist, bitte, bitte!
Mit Silvester endet die Zeit zwischen den Jahren, es ist die Zeit der Wunder und des Aberglaubens. Da schlechte Zeiten Aberglauben nähren und die Zeiten vorerst wohl nicht besser werden, werfen wir in unserer Silvesterausgabe einen Blick auf den boomenden Markt für Esoterik und Heilkristalle, untersuchen die Verbindung von Aberglauben zu rechtem Gedankengut und lassen Theodor W. Adorno den Kapitalismus aus Horoskopen erklären.
Alle Texte unter: dasnd.de/aberglaube.
Im Umfeld schwerer Krankheiten wie Krebs sind irrationale Handlungen, magisches Denken und esoterische Ansichten weit verbreitet, und es ist oft gar nicht so einfach, die harmlosen Erleichterungen einer schwer zu bewältigenden Lebenssituation zu unterscheiden von den schädlichen.
Manchmal ist es einfach: Wenn Leute Handauflegen praktizieren, statt Chemotherapie zu machen, oder wenn sie Operationen ablehnen, weil ihr Körper ihnen mit der Krankheit etwas beibringen wolle. Leute, die auf häufig als »Schulmedizin« verunglimpfte, etablierte Therapien verzichten, überleben diese Entscheidung oft nicht besonders lange.
Vermeintlich sanfte Alternativen
Schwieriger zu beurteilen ist das weite Feld der vermeintlich sanften Therapieformen, die ergänzend zu den etablierten Methoden angewendet werden, um den Körper zu unterstützen oder die Schwere von Nebenwirkungen abzumildern. Diese werden – wie beispielsweise homöopathische Präparate – teilweise auch von normalen Ärzt*innen mit Aussagen wie »Sie können es ja mal probieren«, »es kann ja nicht schaden« oder »wenn es Ihnen guttut« empfohlen und von einigen Krankenkassen sogar bezahlt. So verschwimmt die Grenze zwischen evidenzbasierter Medizin und Zuckerwasser.
Aber ist eine solche ergänzende Nutzung alternativer Methoden wirklich im besten Fall hilfreich, im schlimmsten Fall harmlos? Leider nein. Tatsächlich bedeuten solche Methoden häufig einen nicht zu unterschätzenden Zeit- und Kostenaufwand. Außerdem erzeugt ihre Anwendung oft emotionalen und psychischen Druck und Schuldgefühle: Man nimmt nicht einfach nur Medikamente, man kümmert sich um sich – und wenn es nicht wirkt, hat man wohl etwas falsch gemacht. Außerdem stecken hinter den Verfahren häufig ganze Glaubenssysteme, in die man immer tiefer hineingeraten kann.
Zudem haben Krebspatient*innen, die zusätzlich zu einer etablierten Therapie »alternative« Heilverfahren nutzen, möglicherweise langfristig schlechtere Überlebenschancen. Das ergab zumindest 2018 eine Studie in den USA mit etwa 1000 Patient*innen. Obwohl die Nutzer*innen ergänzender Methoden im Schnitt jünger, gebildeter und wohlhabender waren und weniger Begleiterkrankungen hatten als die Patient*innen, die keine ergänzenden Methoden nutzten, war ihr Risiko, an der Krankheit zu sterben im Fünf-Jahres-Vergleich doppelt so hoch. Das lag der Studie zufolge wohl nicht an den ergänzenden Therapieformen selbst, sondern daran, dass diese Betroffenen nach der ersten konventionellen Therapie tendenziell weitergehende herkömmliche Therapien ablehnten. Sie hatten möglicherweise das Gefühl, den Krebs genug mit anstrengenden, mit schweren Nebenwirkungen behafteten herkömmlichen Therapien bekämpft zu haben und vertrauten nun »alternativen« Methoden, um ihren Körper und ihr Immunsystem zu stärken.
Anfällig für Hokuspokus
Lebensgefährliche Krankheiten stellen das Zutrauen der Menschen zu sich selbst infrage und erschüttern ihre Weltsicht. Das macht sie empfänglich für Nonsens, Hokuspokus und einfache Erklärungen. Scharlatane und vermeintliche Wunderheiler*innen versuchen das auszunutzen. Die »ganzheitliche Alternativmedizin« ist ein lukrativer Geschäftsbereich, in dem man buchstäblich aus Scheiße Gold machen kann. Nach Angaben der Deutschen Krebsgesellschaft nutzen etwa die Hälfte der Krebskranken ergänzende Methoden, bei Brustkrebspatient*innen sind es sogar über 90 Prozent.
Welche Methoden wie gut gegen was nutzen, darüber gibt es meist eher anekdotische Evidenz, Tipps werden in Betroffenengruppen weitergegeben. Teilweise schwören Patient*innen darauf, dies oder jenes vorbeugend anzuwenden. Da die Bandbreite möglicher Nebenwirkungen der herkömmlichen Therapien wie Chemotherapie, Bestrahlung oder Hormontherapie sehr groß ist, lässt sich selbstverständlich nicht sagen, ob die Nebenwirkung wegen der besseren Ernährung, der Akkupunktur oder der Homöopathie ausgeblieben sind oder ob man sie ohnehin nicht bekommen hätte. Das Ausbleiben der Nebenwirkungen wird dann aber als Beweis für die Wirkung angesehen und die Methode oder das Präparat engagiert weiter empfohlen.
Eine neue Leitlinie
2021 haben die großen onkologischen Fachgesellschaften eine Leitlinie zum Einsatz von Komplementärmedizin in der Onkologie herausgegeben. Neben der Leitlinie für Ärzt*innen gibt es auch eine Ausgabe für Patient*innen, die verständlich und nachvollziehbar sein soll. Untersucht wurde die Studienlage zur Behandlung von Nebenwirkungen wie Angst, Erbrechen oder Schmerzen und Therapiemethoden wie Akupunktur und Energieheilung durch Handauflegen.
Die Patientenleitlinie warnt – unabhängig von den angewandten Methoden – vor »unseriösen Anbietern«. Diese würden unter anderem »eine Heilung der Krebserkrankung« versprechen, »auch wenn alle anderen Behandlungsformen sie bisher nicht heilen konnten«, »eine Behandlung ohne Risiken und Nebenwirkungen« versprechen, erklären, »dass ihre Behandlungen bei gleichzeitiger ›schulmedizinischer‹ Behandlung nicht wirksam seien« und »hohe Summen im Voraus oder bar« verlangen.
Auf dem Titelbild der Broschüre sieht man eine dezent geschminkte Frau, die sich ein blütenweißes Tuch über den Kopf hält und augenscheinlich genussvoll Rauch aus einem Schüsselchen einatmet, in dem einige Kräuter liegen. Abgesehen davon, dass man so nicht inhaliert – was strahlt so ein Bild aus? Wellness, Erholung, Selbstsorge, alles schick, kein Grund zur Beunruhigung.
Dies widerspricht dem Inhalt der Broschüre: Die positiven Bewertungen »soll« oder »sollte« werden unter allen Therapieformen und potenziellen Anwendungszielen nur ganze sieben Mal vergeben, vor allem für Sport und Bewegung. Bei den meisten Verfahren konnten nach Überprüfung der Studien »keine ausreichenden Daten für Empfehlung« festgestellt werden, mehr als 20 Mal wird ausdrücklich von einer Anwendung abgeraten. Weder sollten Patient*innen demnach ihre Ängste mit Handauflegen noch Nervenschäden mit Vitamin E behandeln.
Die sogenannten alternativen Therapieansätze reduzieren vermeintlich die Komplexität der Behandlung und geben den Patient*innen die Möglichkeit, selbst aktiv zu werden, statt die anstrengende Behandlung nur durchzuhalten. Weil das Gefühl von Selbstwirksamkeit für den Heilungsprozess wichtig ist, unterstützen auch Mediziner*innen und Selbsthilfegruppen solche Therapien. Sogenannte alternative Therapieformen sind aber nicht hilfreich und harmlos, vielmehr können verschiedene schädliche Effekte eintreten, inklusive einer zunehmenden Affinität für Mumpitz und Hokuspokus und einer höheren Sterberate.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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