El Gordo auf dem Rummel

Im Angermuseum Erfurt sind derzeit 130 Arbeiten aus dem Nachlass von Clemens Gröszer zu sehen

  • Peter Arlt
  • Lesedauer: 6 Min.
Der Künstler im Selbstporträt als Hauptgewinn: Gröszers »El Gordo« (1983–86)
Der Künstler im Selbstporträt als Hauptgewinn: Gröszers »El Gordo« (1983–86)

Im Begrüßungsbild von einem Rummelplatz fährt »Der Driver (Selbst)« (1985–2001) dem Besucher der Ausstellung »Clemens Gröszer. Magie der Wirklichkeit« im Autoscooter entgegen. Ein Spielzeug für Größere, ein menschlich gelenkter technischer Apparat aus Mann und Auto – ein wenig erinnert das an die romantische Liebe E. T. A. Hoffmanns zu den mechanischen Lebewesen.

Über dem Vehikel sprühen wie ein Feuerwerk Elektrofunken vom Gitter der Oberleitung. Die Zigarette hängt lässig im Mund des Fahrers, sein Schlips fliegt. Ein anderes Gefährt steckt sinnbildlich in der Ecke, und der Rempler am Heck eines weiteren bleibt wegen des umlaufenden Gummiringes unbeachtet. Der Künstler genießt das Volksvergnügen in der freudvollen Bewegung ohne Ziel. Seinen nachdenklichen Blick in die Ferne zeigt er unter einem instabilen Gerüst auch als »El Gordo« (1983–86). So preist er sich selbstironisch nach der spanischen Lotterie als Hauptgewinn, umgangssprachlich »der Dicke«.

Als Zigarettenraucher – wie ihn viele Selbstporträts zeigen – hat sich Gröszer ein Sicherheitsholz aus Riesa entzündet. Mit klaren Augen erblickt er alles ernst und kritisch, besonders in der Kaltnadelradierung »Selbst« (1980), deren expressionistischer Zugriff das eigene Selbstbildnis mit dem Konterfei von Karl Schmidt-Rottluff, Conrad Felixmüller und Max Beckmann verbindet.

Als Gröszer (1951–2014) mit 21 Jahren an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee zu studieren begann, endeten die »stürmischen Sechziger mit ihrer festen Hoffnung auf die Zukunft« (G. G. Dadamjan), die sich in dem irrealen Vertrauen auf die rationale und planmäßige Steuerung nationaler wie internationaler Prozesse gründeten. Zeitgleich gab es weltweit einen ähnlich gerichteten Realismus. Die gewohnte Abstraktion war für manche stickig.

Von der Documenta 5, 1972, die zentral mit John De Andrea und Cluck Close »Hyperrealismus« zeigte und »individuelle Mythologien« feierte, brach ein frischer Wind in die Kunstgefilde. Zwischen den realistischen Strömungen im Osten und im Westen, vor allem in den USA, gab es Wechselwirkungen. Sie traten der Offenheit des »Anything goes« von lauter nichtssagenden Endpunkten entgegen mit einer herausfordernden Ästhetik des Widerstands. In Gröszers Gemälde »Réunion« (2007) versammeln sich dreizehn Vertreter der östlichen Strömung zum sinnlichen Abendmahl um eine aufgebahrte lebendige Schöne. Darunter die Gruppe »neon-real«, Clemens Gröszer, Rolf Biebl und Harald Schulze sowie auch der Dichter Karl Mickel und der Kunstwissenschaftler Matthias Flügge, der sah, wie »neon-real« sich gegen die Herumschluderei der »genialen Dilettanten auf die altmeisterliche Lasurtechnik besannen, die Perfektion verlangt«.

Alltagsbezogene Bilderwelten, die Befragung der Realität und intensive Erbebeziehungen zur Renaissance, zum Verismus (Dix, Grosz) und magischen Realismus sind programmatisch für Gröszers Werk. Sein Statement »Die Magie der Wirklichkeit genügt mir, daran meine Malerei zu entzünden« steht der Ausstellung mit 130 Arbeiten aus dem Berliner Nachlass voran. Wie sich seine Kunst an der unmittelbaren Begegnung entzündet hat, zeigen Farbstudien von der »Toten Blauracke« (2011) – oder die sehr konkret gezeichneten Geschlechtsorgane mit Fältchen und Äderchen. Gröszers nackte Modelle sind schön und hässlich. Der unmittelbar sinnlichen Begegnung folgt die zu Kunstwerken anderer, die der Maler liebt.

Manche Motive tauchen als stilistisch authentische Versatzstücke in seinen Bildern auf und bringen im veränderten Zusammenhang neue Sinnschichten hervor, so im »Kreuzigungsfragment (Dresdner Altar)« (1984–2004), wo im Mittelteil das Kreuzigungsmotiv von Matthias Grünewald adaptiert ist und auf der rechten Tafel das Motiv einer nackten Frau. Deren Brustrose wird von einer anderen Nackten mit den Fingern gelost – eine Referenz auf das berühmte Gemälde »Gabrielle d‹Estrées mit ihrer Schwester, der Herzogin von Villars« (1594) des anonymen Malers der Schule von Fontainebleue. Auf einer anderen Leinwand wird eine Hure mit aufgedonnertem Make-up und langstrümpfig erotisierten schlanken Beinen zur »Versuchung« (1979/89); sie will in tangagesteigerter Nacktheit den Antonius aus der Askese locken.

Außerdem zu sehen sind schön gemalte Porträts abschätzender, selbstbewusster, kluger Frauen wie das der Schauspielerin »Bildnis Anne-Kathrin Bürger« (2010/2012) sowie von dem Mädchen »Rosa mit Spielzeug« (1982), das wie eine Erwachsene ernst genommen wird und dessen Spielzeug auf vielseitige Interessen – von Natur zu Technik, von Mathematik zu Fantasie – schließen lässt. Gemalt in Mischtechnik auf Leinwand, deren Geheimnisse Gröszer von seinem Lehrer Kurt Robbel vermittelt wurden. Eine Bereicherung erfährt diese Technik durch collagierte Teile, so etwa beim »Bildnis des Friseurs Frank Schäfer« (1999): Schmuckbesät, mit unedlen steinbesetzten Ringen an jedem Finger, mit unzähligen Ketten, Reifen und Piercings, einer Schraube durch den Nasenflügel, doch mit Kreuz und dem Tattoo »Lämmchen«, wird der DDR-Kultfriseur scherzhaft als Jesuslein dargestellt.

Gröszer verlässt zuweilen die figurative Motivwelt, kommt aber immer zu ihr zurück. Herausragend sind die Melancholie-Bilder. Ein Protomotiv dafür war die Zeichnung »Marina, 4.12.1981«, Bleistift auf Karton: Eine Frau sitzt mit übergeschlagenen Beinen und hochgehaltenen, angewinkelten Armen auf einem Schemel. Sie wurde zu »Marin á cholie« in verschiedenen Versionen und verweist auf das Lieblingsmotiv Gröszers, »Kreidefelsen auf Rügen« (1818/19) von Caspar David Friedrich. In anderen Farben ergibt sich über den stufigen Kreidefelsen auf Rügen ein grandioser Blick auf die blendend weiße Umfassung des Meeres – ein Lebenssymbol, Friedrichs Kunst entnommen.

Eine fast nackte Frau, riemenbekleidet, ist in wiederkehrenden Varianten von Malerei und Grafik zu sehen, bekrönt mit einer Kauftüte. Die Tüte ähnelt einer Mitra und erhebt so das Konsumdenken ins Royale: Bildhaft vergegenwärtigt sie die Umkehr der Werte in dieser Zeit. In der Lithografie »M. A. C., Melancholia XII« (2008) balanciert eine Hand auf drei Fingerspitzen eine Glaskugel, wie ohne Berührung, als hielte ihr Blick sie magisch. In der Glaskugel ist die Welt verdreht und verzerrt reflektiert. In sie zu schauen, heißt, auf eine sehr fragliche Auskunft zu hoffen. Das Gegenteil zur Welterschließung mit Malstock und mit Maßstab, die über der Kugel liegen und wie der Zirkel bei Albrecht Dürer die rationale Erkenntnis symbolisieren.

Dürer führte seinen Zirkel in dem Kupferstich »Melencolia I« (1514) um eine Fledermaus. Sie ist eine Figur der Nacht, die auch bei Gröszer auftaucht. Und auch Dürers Bemühungen um die richtige Perspektive und die Lösung geometrischer Probleme scheinen bei Gröszer auf. Es gibt bei ihm einen Steinblock, einen zwölfeckigen Polyeder, behauen mit der Erkenntnis, das Unendliche könne man »mit der Hand nit machen … Das faßt allein der Verstand«. Und mit Leiter, Turmbau und rollender Kugel stoßen wir auf das immerwährende Problem, dass die Begrenztheit unseres Strebens in uns Melancholie hervorruft.

»Clemens Gröszer. Magie der Wirklichkeit«, bis zum 5. März, Angermuseum Erfurt

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