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Beim Großen Imker
Lange war Leo Fischer die Kirche in seiner Nachbarschaft ziemlich egal. Doch allmählich wurde er neugierig
Irgendwann in der Pandemie muss es gewesen sein, als mein Nachbar, der Pfarrer, seinen Glauben verlor. Grund zur Klage hatte er nicht: Im hübsch durchgentrifizierten Frankfurter Nordend ist seine moderne evanglische Betonkirche ein imposanter Blickfang. Ihr dezent amplifiziertes Bimmbamm fällt keinem der ansässigen Hipster groß zur Last. Das allein ist schon eine Leistung: Während die örtliche Gastronomie jeden Abend davor zittern muss, von gelangweilten Altbaubewohnenden die Polizei auf den Hals gehetzt zu bekommen, bleibt die Kirche von Ruhestörungsklagen verschont. An einem sorgsam begrünten Plätzchen gelegen, informierten die beiden Infokästen über mancherlei Aktivitäten: gemischter Chor, interreligöse Bingoabende, ökumenisches Badminton. Ob die Gottesdienste gut besucht waren, kann ich nicht sagen; doch zeugten das gepflegte Vorgärtlein und der oft mit diverser Kunst verkitschte Glockenturm von einem wohlorganisierten Netzwerk oder doch zumindest einem kollektiven Interesse.
Vielleicht hatte der Pfarrer schon vorher Zweifel gehabt, hatte im Privaten mal flüsternd Gott gelästert oder Satansmusik gehört. Aber in der Pandemie wurde aus dem Unglauben Praxis. Es fing harmlos an. »Selbstgemachter Honig« stand auf einem Aushang im Infokasten. Noch reihte sich das Blättchen unter die anderen Aktivitäten, ökumenisches Schwarzlichtminigolf, interreligiöses Monstertruck-Duell, sowas halt. Doch bei der Honigwerbung blieb es nicht. Der Infokasten füllte sich mit weiterem Material: Der Lebenszyklus einer Biene. Theorie und Praxis der Bestäubung. Honig – ein gesundes Lebensmittel. Interreligiöses Honigkuchenessen. Es dauerte vielleicht ein Jahr, aber schließlich waren sämtliche Gemeindebriefe, Gottesdienstansagen und Aktivitäten durch Honig- und Bienenproganda ersetzt. Statt Jesus und seiner herrlichen Schmerzensbotschaft wurden nun Bienenwachskerzen angepriesen. Lebenszyklus eines Imkers. Honig – Heilmittel für alle Krankheiten. Die Biene – Königin des Tierreichs. Die langweilige Kunst war vom Glockenturm abgenommen worden, aus jedem Fenster ragte nun ein riesiger summender Bienenstock. Nirgends wurde versucht, den Umbau der Gemeinde in ein Bienenparadies auch nur religiös zu kaschieren. Ich meine, man hätte ja auch Bienenwachskruzifixe oder Honighostien herstellen können, aber nein: Die Gemeinde wurde immer auch säkularer.
Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der aufgeregten Öffentlichkeit nützliche Vorschläge und entsorgt den liegengelassenen Politikmüll. Alle Texte auf dasnd.de/vernunft.
Lange Zeit vermutete ich, dass sie durch einen Kult unterwandert worden war, den Kult der Biene. In unterirdischen Wabengewölben, so malte ich mir aus, pflegten die Kultist*innen orgiastische Rituale, summten unheilige Gebete zur Bienenkönigin. Im Zentrum der blasphemischen Handlungen: der Pfarrer, der sich seit Monaten nur mehr von Gelée Royale ernährte, zu grotesker Größe angeschwollen, mit Honig beschmiert, jeden Tag ein Dutzend Eier legend, die Grundlage einer Armee evanglischer Mensch-Bienen-Hybride … Es tut mir leid, ich habe nun mal viel Fantasie! Die Wahrheit ist immer langweilig. Möglich, dass der Protestantismus, als Geist des Kapitalismus, gar nicht so weit vom Bienenkult entfernt ist: Wir alle sind nur emsige Bienchen im Bienenstock der Schöpfung, müssen fleißig und konform sein und auf eine Gnade des Großen Imkers da oben hoffen.
Der Bienenkult ist jedenfalls noch ungebrochen. Die Gemeinde hat Garten und Vorhalle renoviert. Neulich hat mich der Gärtner zu einem Kennenlernabend eingeladen. In seinen freundlichen Facettenaugen leuchtete Begeisterung. Wer weiß, vielleicht gehe ich mal hin.
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