Gefangene der Vergangenheit

Außenministerin Baerbock besucht ein Polizeirevier, spricht über DDR-Kinderheime und wird von Rechten als Kriegstreiberin geschmäht

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 7 Min.

Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) steht am Freitag etwas erhöht auf der Treppe des Polizeireviers von Bad Freienwalde und spricht von dort aus in die vor ihr aufgebauten Fernsehkameras. »Auch 30 Jahre nach der friedlichen Revolution bleibt die Aufarbeitung des SED-Unrechts wichtig«, sagt sie wie auswendig gelernt. Dann spricht sie von dem sogenannten Kindergefängnis, das es hier an der Adolf-Bräutigam-Straße 4 von 1968 bis 1987 gab.

Die Bezeichnung Kindergefängnis verwendet ein Verein von 22 ehemaligen Insassen. Eigentlich war es ein Durchgangsheim, in das Kinder und Jugendliche eingewiesen wurden, bis ein Platz in einem regulären Heim für sie gefunden wurde. In maximal 18 Tagen sollte das geschehen sein, dauerte aber oft viele Monate. Der politisch aufgeladene Begriff Kindergefängnis hat mindestens in einer Hinsicht eine Berechtigung. Denn der Gebäudekomplex war 1912 als Amtsgerichtsgefängnis erbaut und 1968 für seine neue Bestimmung nicht grundlegend umgestaltet worden. So blieben die Fenster vergittert, das Gebäude war weiterhin mit einer Mauer abgeschirmt. Die Heimkinder lebten in Zellen mit Kübeln für die Notdurft.

»Wir waren von der Außenwelt isoliert«, beklagt der Vereinsvorsitzende Roland Herrmann. Durchgangsheime habe es in allen Bezirken der DDR gegeben, doch keines davon sei wie das in Bad Freienwalde gewesen, erzählt er. Ende der 80er Jahre hätten die Verantwortlichen endlich erkannt, dass ein altes Gefängnis als Kinderheim ungeeignet gewesen sei. 1987 sei das Kinderheim aus dem Gebäude herausgenommen und noch in der DDR seien die Gitter von den Fenstern entfernt worden, berichtet Herrmann.

Nach der Wende war zunächst geplant, das Gefängnis abzureißen und an seiner Stelle einen Neubau für das Grundbuchamt zu errichten. Daraus wurde aber nichts. Das Grundbuchamt zog in den bestehenden Komplex ein, der auf diese Weise erhalten blieb. Seit dem Umbau zum Polizeirevier im Jahr 2017 erinnert fast nichts mehr an die Vergangenheit. Die Treppe mit Geländer ist noch original, sonst können die ehemaligen Heimkinder nicht mehr viel wiedererkennen. Einer von ihnen waren die Gänge als Kind viel länger vorgekommen, wie sie sagt.

Ministerin Baerbock besichtigt mit Heimkindern von einst, die längst erwachsen und schon im höheren Alter sind, am Freitag im Polizeirevier ein Büro, für das zwei Zellen zusammengelegt wurden. Die Schreibtische und Schränke sind neu, auch die Türen. In die modernen Schlösser würden die großen alten Zellenschlüssel nicht passen, die Roland Herrmann bei sich hat und der Ministerin zeigt. »Da hinten war eine Zelle, da wurde gefoltert«, erzählt er über die Zeit, in der das Haus vor der Gründung der DDR ganz offiziell ein finsteres Gefängnis war. »Das hat man ja mit uns glücklicherweise nicht gemacht.«

Bevor die Politikerin selbstsicher ein Statement vor den Fernsehkameras abgibt, erkundigt sie sich, warum das hier einmal so schlimm gewesen sei in dem Durchgangsheim: »War das Methode oder war das, weil man keinen Platz hatte?«

Anstelle der einstigen Insassen antwortet Evelyn Zupke, Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur, sehr bestimmt: »Jugendheime waren insgesamt ein Repressionsinstrument des SED-Regimes.« Das klingt, als seien sämtliche Kinderheime in der DDR gruselig gewesen, und so soll es gewiss auch klingen. Es entspricht aber, wenn überhaupt, nur bedingt den Tatsachen.

André Pahl hat die Unterschiede am eigenen Leib erfahren. Er kam als 13-Jähriger 1979 für acht Monate nach Bad Freienwalde und wurde dann nach Müllrose in ein normales Kinderheim »wegen guter Führung entlassen«, wie er es nennt. In Müllrose sei er nicht mehr eingesperrt gewesen, habe die Schule besuchen dürfen. Es sei dort sehr viel besser gewesen. In Bad Freienwalde sei ihm und anderen in einem Raum unter dem Dach nur provisorisch Unterricht erteilt worden. So dürftig, dass er nachher in Müllrose die 7. Klasse habe wiederholen müssen.

In Bad Freienwalde habe er sich verstellt, damit ihn die Erzieher für gebessert gehalten und nach acht Monaten endlich herausgelassen hätten, berichtet Pahl. Sein Schicksal sei gewesen, dass sich seine Mutter mit ihm überfordert gefühlt und ihn ins Heim gegeben habe. Er habe das politische System in der DDR abgelehnt und seine Freiheit gewollt, habe im Radio Westmusik gehört und Westklamotten getragen, die ihm seine Verwandten aus der Bundesrepublik geschickt hätten. Hätte er diese Verwandten in Stuttgart besuchen dürfen, so hätte er die Gelegenheit genutzt, gleich für immer drüben zu bleiben. Doch Pahl durfte nicht reisen und versuchte vergeblich, aus der DDR zu fliehen.

Auch im Heim in Müllrose sei er angeeckt, »weil ich nicht so geradeaus gelaufen bin, wie sie wollten«. Manchmal sei ihm gedroht worden, er komme wieder nach Bad Freienwalde. Dann habe er sich eine Weile zusammengerissen, denn das habe er auf gar keinen Fall gewollt. Es ist ihm auch nicht ein zweites Mal wiederfahren. »Es war eine Gratwanderung.«

Brandenburgs Innenstaatssekretär Markus Grünewald, der bei dem Termin mit Baerbock dabei ist, sagt mit Blick auf die 29 Polizisten, die seit 2017 an der Adolf-Bräutigam-Straße ihre Büros, Umkleidekabinen und Duschen haben: »Der Ort des Unrechts ist damit ein Ort des Rechts und der Sicherheit geworden.«

Roland Herrmann und sein Verein ehemaliger Heimkinder würde sich statt des Polizeireviers allerdings etwas anderes wünschen: eine Gedenkstätte mit einer Ausstellung. Seit 2017 gibt es nur ein kleines Mahnmal auf dem Bürgersteig – einen symbolträchtig vergitterten Schaukasten mit dem Hinweis »Kindergefängnis 1968 bis 1987«. Dort stecken Baerbock, Pahl und die anderen Blumen hinein. Bis zu 40 Kinder gleichzeitig seien in dem Durchgangsheim gewesen, sagt Herrmann. Wie viele es insgesamt in all den Jahren waren, das weiß er nicht. Vollständige Unterlagen seien nicht erhalten geblieben, bedauert Maria Nooke, Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur. Sie hat ein klares Bild, was die Heimerziehung in der DDR bezwecken sollte: »Der sozialistische Mensch sollte erzogen werden.« Das ist sicher richtig und für Nooke ungeheuerlich.

Vorsorglich hat sich Baerbock bereits förmlich verabschiedet, bevor sie vor das Tor des Polizeireviers und an das Mahnmal herantritt. Denn wenn die Lage draußen außer Kontrolle gerate, müsse sie vielleicht schnell weg, entschuldigt sie sich. Hereingekommen ist die Politikerin über einen Seiteneingang. Auf der anderen Straßenseite demonstrieren 42 Männer und Frauen und warten, um sich lautstark bemerkbar zu machen. In der rechten Szene wurde mobilisiert, in Kreisen der AfD zum Protest aufgerufen. Baerbock ist von draußen noch gar nicht zu sehen, nur zu hören, als vom Band die alte Kaiserhymne »Heil Dir im Siegerkranz« und schmissige Militärmärsche erklingen. Die Leute pfeifen und tröten und skandieren »Kriegstreiber, Kriegstreiber«. Sie haben auf Pappschilder gemalt: »Frieden mit Russland« und »Grüne = Volksverräter«. In die Schublade der AfD wollen mehrere Frauen, die sich an der Aktion beteiligen, nicht gesteckt werden. »Wir sind alle ganz normale Leute«, betont eine von ihnen. »Ganz normale Bürger, die sich Frieden wünschen.«

Einen Mann aus dem rheinland-pfälzischen Trier, der ursprünglich aus dem brandenburgischen Bernau stammt, führte aber ein anderes Anliegen her: »Mich interessiert, warum die Herrschaften angeblich legitimiert sind, die Regierung zu bilden.« Der Mann hat nach eigener Darstellung Beschwerde gegen die Bundestagswahl 2021 eingelegt, nicht etwa wegen Wahlpannen wie in Berlin, sondern weil völlig ungeklärt sei, wer überhaupt deutscher Staatsangehöriger sei. Auch Landtagswahlen in sechs Bundesländern habe er aus diesem Grunde angefochten, erzählt der Mann. Er trägt eine Wollmütze in den Farben Schwarz-Weiß-Rot, den Farben der Flagge des deutschen Reichs bis 1918. Im April habe es bei ihm eine Hausdurchsuchung gegeben, weil er Menschen ganz entfernt kenne, denen vorgeworfen werde, sich verschworen zu haben, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zu entführen und die Regierung zu stürzen. »Alles Quatsch!«

Den ehemaligen Heimkindern ist der Zirkus vor dem Polizeirevier ein Graus. Sie leiden so schon darunter, dass Einwohner der Stadt nicht ihren Schilderungen glauben, sondern den früheren Heimerziehern. Auch Bürgermeister Ralf Lehmann (CDU) lehnt die Bezeichnung »Kindergefängnis« ab. Krieg, Waffenlieferungen und Militär, darum soll es hier nicht gehen, zumindest nicht vordergründig. Denn so wie posttraumatische Belastungsstörungen von Bundeswehrsoldaten im Auslandseinsatz sollten auch gesundheitliche Folgen für die ehemaligen Heimkinder pauschal anerkannt werden, damit die Betroffenen nicht alle einzeln und immer wieder vor Gericht darum streiten müssten, erklärt Baerbock.

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