- Politik
- Lützerath
Braunkohledorf von Polizei gestürmt
Am frühen Mittwochmorgen begann der Räumungseinsatz bei Erkelenz
Es war noch dunkel, da meldeten sich Besetzer*innen zum ersten Mal per Livestream aus einem Baumhaus in Lützerath. Was sie zu berichten hatten, ließ nichts Gutes für die Besetzung erahnen: Rund um das Dörfchen am Rand des Braunkohletagebaus Garzweiler II hatte sich schon Polizei positioniert. Und es kam immer mehr dazu, die Fahrzeuge näherten sich in endlos wirkenden Kolonnen über Landstraßen und aus der Kohlegrube.
Noch am Mittwochmorgen hatte das Verwaltungsgericht Aachen zwei weitere Eilanträge gegen das Aufenthaltsverbot in dem Braunkohleort abgelehnt, eine Allgemeinverfügung des Kreises Heinsberg sei demnach »voraussichtlich rechtmäßig«.
Am Eingang zum Dorf sammelten sich anschließend hunderte gepanzerte und behelmte Polizist*innen. Gegen 8:30 Uhr, als es in Lützerath hell wurde, schlugen sie los. Angeführt von einer bei Aktivist*innen als besonders brachial geltenden Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit stürmte die Polizei in das Dorf. Schnell schwärmten die aus mehreren Bundesländern zusammengezogenen Beamt*innen aus und besetzten alle neuralgischen Punkte, darunter die Eingänge zu den besetzten Häusern und das aus rund 25 Baumhäusern bestehende Wäldchen. Vor der Räumung ging die Polizei davon aus, dass sich über 300 Menschen in Lützerath aufhalten, die Besetzer*innen sprachen von 700.
Nach einer kurzen Schockstarre reagierten einige Besetzer*innen mit Steinwürfen und dem Beschuss mit Pyrotechnik. Auf einem bei Twitter verbreiteten Video ist auch der Wurf eines Molotow-Cocktails, der auf einer Straße landet, zu sehen. Anschließend hat sich die Situation in Teilen Lützeraths beruhigt. Viele Besetzer*innen zogen sich in ihre Infrastruktur zurück oder riefen von Dächern Parolen. Die Polizei nutzte die relative Ruhe, um das Dorf auszukundschaften. Menschen, die am Boden angetroffen wurden, erhielten das Angebot dass sie gehen könnten, ohne dass ihre Personalien festgestellt und eine Anzeige wegen der Nicht-Befolgung des Betretungsverbots gestellt würde. Nicht wenige machten davon Gebrauch, immer wieder führte die Polizei einzelne Menschen oder kleine Gruppen aus dem Dorf.
Die Polizei beendete außerdem eine Mahnwache in einer Kapelle, die christliche Initiative »Kirche im Dorf lassen« kritisiert dies als Angriff auf die Religionsfreiheit. Unter den Protestierenden sind nach Angaben der Polizei auch Eltern mit kleinen Kindern. Die Beamten würden dabei helfen, Familien vom Gelände zu begleiten, sagen sie. Auch das zuständige Jugendamt sei zugegen, mit welchem Auftrag bleibt aber unklar.
Ein Aktivist, der Lützerath verlassen hat, erzählt dem »nd« am Telefon, dass er die Situation »psychisch nicht ausgehalten« habe. Die »Dauerbelagerung« der Polizei habe schon »an seinen Nerven gezerrt«, der massive Räumungseinsatz habe ihm den Rest gegeben. Lützerath sei »so ein traumhafter Ort« gewesen, er habe Freundschaften geschlossen und so viel erlebt, nun könne er nicht »ohnmächtig bei der Zerstörung zuschauen«.
Anderen, denen der Sinn nicht danach stand, Lützerath zu verlassen, sondern hineinzukommen, erging es schlecht. Eine Gruppe aus dem Protestcamp im benachbarten Keyenberg wurde kurz vor Lützerath von der Polizei unter Einsatz von Pfefferspray und Schlagstöcken eingekesselt. Längere Zeit musste sie danach auf einem Feld ausharren. Allerlei Probleme melden auch Medienschaffende, die in Lützerath berichten wollten. Manche hatten bei der Anreise Probleme, ihnen wurde gesagt, dass ein Presseausweis nicht ausreiche, um nach Lützerath zu kommen, sie eine Akkreditierung durch die Polizei Aachen benötigen, obwohl diese vorher das Gegenteil zugesichert hatte. Weitere Journalist*innen berichten von Schwierigkeiten mit einzelnen Polizeieinheiten in Lützerath. Diese reichen von der Aufforderung, Fotos zu löschen, bis zur Androhung von Festnahmen.
Die linke Bundestagsabgeordnete und nordrhein-westfälische Landesvorsitzende Kathrin Vogler befindet sich seit Sonntag in Lützerath. Gegenüber »nd« schildert sie, wie die Polizei »gerade gegen gewaltfreie Aktivist*innen teilweise unverhältnismäßig brutal vorgegangen« sei. Auch habe sich die Polizei nicht an Absprachen gehalten und etwa einen Stützpunkt von Demo-Sanitäter*innen geräumt. Das sei »entsetzlich«, weil dadurch die »medizinische Versorgung der Menschen in den Häusern und Baumhäusern verhindert« werde. Vogler kritisiert auch die Landesregierung für die Polizeiführung. Beide bezögen sich immer wieder auf die »Rechtsstaatlichkeit«, würden aber vergessen, dass »die Verhältnismäßigkeit ein zentrales Prinzip des Rechtsstaats ist«.
Der Aktivist Flo, der die Räumung in einem Baumhaus miterlebt, sprach gegenüber »nd« davon, dass die Polizei am Morgen eine »Einschüchterungstaktik« angewandt habe. Es gebe noch viele Strukturen, die nicht geräumt sind. Sein Ziel sei es weiterhin, »Lützerath unräumbar« zu machen. Das Thema Klimagerechtigkeit müsse »alle Menschen beschäftigen«, im Globalen Süden würde aufgrund der Klimakatastrophe täglich gestorben, es sei gut, wenn internationale Medien auf Lützerath und damit auf die Verantwortung von Industrienationen wie Deutschland und Energiekonzernen wie RWE schauten.
Im Laufe des Nachmittages schritt die Räumung voran. Schon am Mittag räumte die Polizei mit der »Küche für Alle« eine zentrale Infrastruktur der Besetzer*innen. Vermutlich wird der Polizeieinsatz in den kommenden Tagen andauern. Unterstützung für die Besetzer*innen kommt indes von Prominenten wie Luisa Neubauer, Schauspieler*innen wie Bjarne Meisel, Pheline Roggan und Anton Spieker, der Moderatorin und Influencerin Louisa Dellert, den Musiker*innen Charlotte Brandi und Francesco Wilking sowie Vorsitzenden von mehreren Umweltverbänden leisten. Sie kündigen für heute eine Aktion zivilen Ungehorsams gegen die Räumung an. Für das Wochenende hat sich außerdem Greta Thunberg in der Region angekündigt.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!