Sieg der Panzerdiplomatie

Der Krieg in der Ukraine hat sich festgefahren, doch spätestens für das Frühjahr planen beide Seiten neue Offensiven. Kiew setzt dabei auf deutsche Leopard-Panzer

  • René Heilig
  • Lesedauer: 7 Min.

Andrij Melnyk begann das neue Jahr mit kräftigen Flüchen. »Scheißrussen«, twitterte er und versah seine Nachricht mit grimmigen Emojis. »Auch diese Nacht des Neujahres muss meine 6-jährige Nichte im feuchten Keller verbringen. Man hört in Wyschgorod, nördlich von Kiew, gewaltige Explosionen. Unsere Rache kommt noch, schneller als ihr denkt, ihr herzlosen russischen Arschlöcher.« Der Wutausbruch ist nachvollziehbar, selbst bei einem – wie er sich sieht – »stolzen Diplomaten«.

Melnyk war bis Oktober Kiews Botschafter in Deutschland. Noch immer ist er ein Albtraum für das Kanzleramt. Noch in Berlin forderte er mehr und stärkere Waffen, vor allem deutsche Panzer, damit sein Land Moskaus Aggression widerstehen könne. Nun als Vizeaußenminister fordert er mehr und stärkere Waffen, um die inzwischen arg geschwächten russischen Angreifer auf ihrem eigenen Territorium angreifen und schlagen zu können. Auch wenn er im Twitter-Netzwerk betont, dass seine Ansichten »nicht unbedingt die Position der Ukraine« widerspiegelten, hat er in diesem Fall keinen Dissens mit seinen Vorgesetzten zu fürchten.

Deutschland aber stellt sich quer. Kanzler Olaf Scholz will nicht noch mehr Offensivwaffen in den Krieg entlassen. Natürlich steht er hinter dem Selbstverteidigungsrecht der Ukraine. Doch Scholz denkt den Krieg von seinem Ende her, fragt sich also, was geschieht, wenn Putins Russland, das über mehr Atomwaffen als jeder andere Nuklearstaat verfügt, mit dem Rücken zur Wand steht. Der Kanzler will zudem vermeiden, dass die Nato und vor allem Deutschland direkte Kriegsparteien werden.

Im Gegensatz zu oppositionellen Unionspolitikern und Koalitionspolitikern von FDP und Grünen nimmt der Kabinettschef ein seit März 2022 vorliegendes Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags ernst. Darin ist von Grauzonen zwischen Nichtkriegsführung (»non-belligerent«) und Konfliktteilnahme (»co-belligerent«) die Rede. Die Grauzonen, so heißt es, eröffneten »stets Möglichkeiten für rechtlich unterschiedliche Interpretationen und Bewertungen durch alle Beteiligten – auch hinsichtlich der Frage, ob eine Konfliktbeteiligung (durch Drittintervention) vorliegt oder nicht«. Damals ging es um die von Polen vorgeschlagene Lieferung von MiG-29-Kampfflugzeugen. Sie konnte ohne Zustimmung Deutschlands, das die Flugzeuge an Polen verkauft hatte, nicht gelingen. Die Expertenaussagen können auf anderes Militärgerät übertragen werden.

Bislang verschanzten sich Scholz und seine Getreuen hinter dem Grundsatz einer abgestimmten Bündnispolitik. Sie verfolgte das Ziel, die Ukraine, so weit es geht, mit den in östlichen Nato-Staaten noch üppig vorhandenen sowjetischen Heereswaffen zu unterstützen. Bis zum Sommer hat der Westen dadurch rund 1400 Panzer, Schützenpanzer, gepanzerte Transportfahrzeuge und Artilleriesysteme geliefert. Damit konnte Kiews Armee, die schon zu Beginn der Kampfhandlungen die quantitativ stärkste in Europa war, ihre bisherigen Gegenoffensiven voranbringen. Nun sind diese Geschenke aufgebraucht, der Munitions- und Ersatzteilnachschub versiegt. Daher hatte der ukrainische Generalstabschef zuletzt um mindestens 300 Kampfpanzer, 600 bis 700 Schützenpanzer und 500 Artilleriesysteme gebeten, die auf westlichen Standards basieren.

Offenbar glaubte man in Berlin tatsächlich, dass es bei der Washington-Reise des ukrainischen Präsidenten kurz vor Weihnachten nur um mediales Händeschütteln ging. Den Irrtum erkannte man, als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron der Ukraine urplötzlich die Lieferung von AMX-10-Radpanzern zusagte. Parallel kam aus Washington die Zusage, dass man – als Teil eines neuen 3,8 Milliarden US-Dollar schweren Waffenpakets – 50 Schützenpanzer vom Typ Bradley liefern wolle. Im polnischen Wrocław standen zu dem Zeitpunkt die ersten bereits reisefertig auf Zügen verladen. Berlin reagierte hektisch und sagte – wider bisherige Absicht – die Lieferung von 40 Marder-Schützenpanzern zu.

Zur Ehrlichkeit gehört zu sagen, dass diese Panzerfahrzeuge ihr »Verbrauchsdatum« fast überschritten haben. Sie zu liefern, ist also kein Aderlass für die Nato, wohl aber ein Gewinn für Rüstungsfirmen. Beim Rüstungskonzern Rheinmetall stehen Dutzende Raubtiere auf Halde, die Bundeswehr ersetzt ihre Marder durch Pumas. Der gleichfalls mit Panzerabwehrraketen bestückte Bradley verfügt im Vergleich mit russischen Typen zwar über eine bessere Sensorik, doch ist auch er Technik aus dem vergangenen Jahrhundert. Was Frankreich sich »aus den Rippen schneidet«, ist nur knapp über Schrottwert. Die AMX-10 waren als Aufklärer gedacht, für die Panzerabwehr taugen sie nur bedingt, weshalb die französische Armee die Fahrzeuge ausmustert.

Gewiss, alle Schützenpanzer sind für die Ukraine ein Zuwachs an Offensivkraft. Mit den Mardern oder einer vergleichbaren Anzahl Bradleys lassen sich mindestens zwei mechanisierte Bataillone ausstatten – vorausgesetzt man packt notwendige Versorgungs- und Instandsetzungstechnik hinzu. Selbst wenn die Besatzungen bestens ausgebildet sind, ist der Wert dieser Infanteriepanzer für die im Frühjahr geplanten ukrainischen Offensiven von begrenztem Wert. Dafür braucht Kiew auch moderne Kampfpanzer. Der Leopard 2 ist – wieder eine solide Ausbildung der Besatzungen vorausgesetzt – den von Russland eingesetzten T-72, T-80 und T-90 überlegen.

Kiew fordert seit dem Überfall Russlands vor knapp elf Monaten Leopard-Lieferungen. Verfügbar sind sie, die deutschen Hersteller halten sie vor, diverse Nato-Armeen könnten welche abgeben. Norwegen beispielsweise will seine Leoparden lieber heute als morgen gegen andere Panzer tauschen. Das finnische Heer verfügt über je 100 Kampfpanzer Leopard 2 A4 und A6 sowie über Brückenlege- und Minenräumpanzer auf Leo-2-Basis. Helsinki könnte einige entbehren. Dänemark ist gleichfalls nicht auf alle seine »Leos« angewiesen. Das Problem: Ohne die Zustimmung Deutschlands ist keine Leopard-Lieferung möglich, da Deutschland der Weitergabe von Rüstungsgütern, die in der Bundesrepublik produziert wurden, zustimmen muss.

»Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss«, wiederholte der römische Staatsmann Cato so oft, bis die Stadt in Trümmern lag. Mit gleicher Beharrlichkeit fordert Andrij Melnyk Leoparden. Der ehemalige Botschafter wäre sich untreu, wenn er zudem nicht eine Portion List ins Waffenspiel brächte. Anfang des Jahres überraschte er mit folgender Überlegung: In Europa gebe es etwa 2000 kampfbereite Leopard 2. Wenn die Nutzerstaaten, die zur Nato gehörten, nur zehn Prozent ihrer Kampfpanzer in einen Pool gäben und der Ukraine spendeten, wäre alles bestens.

Der Plan wirkt, die Ukraine zieht so die Nato stärker ins Kriegsgeschehen. Zugleich stehen lieferwillige Regierungen und Befürworter deutscher Panzerlieferungen aus den Reihen der Grünen, der FDP und der Union nun in einer Linie gegen die Nein-Sager um Bundeskanzler Scholz.

Siehe Polen: Dieser Tage erklärte Präsident Andrzej Duda, sein Land sei im Rahmen einer internationalen Koalition zur Lieferung von Leopard 2 bereit. Bei einem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj und dem litauischen Präsidenten Gitanas Nauseda in Melnyks Heimatstadt Lviv gab Duda bekannt: »Eine Kompanie Leopard-Panzer für die Ukraine wird als Teil der internationalen Koalitionsbildung übergeben. Eine solche Entscheidung gibt es bereits in Polen.«

Das klingt solidarisch, allerdings sollte man sich den Zeitpunkt dieser Entscheidung anschauen. Polen sucht schon geraume Zeit eine Möglichkeit, um die in Deutschland billig eingekauften »Leos« älterer Bauart zu entsorgen. Warschau bestellte sogar schon in Südkorea K-2- und in den USA Abrams-Panzer. Zufall oder nicht: An dem Tag, an dem Washington die Bradley-Lieferung in die Ukraine bekanntgab, wurde auch Polens Antrag zur Lieferung von 250 Abrams in der neuesten Version samt peripherer Technik und Munition positiv beschieden.

Der deutsche Regierungssprecher Steffen Hebestreit dämpfte in dieser Woche Erwartungen, dass die Bundesregierung in den kommenden Tagen ihre ablehnende Haltung zu Leopard-Lieferungen ändern wird. Seine zeitliche Einschränkung sagt viel. Am 20. Januar werden sich die von den USA gelenkten Ukraine-Unterstützerstaaten abermals im Ramstein-Format treffen. Wer befördert bis dahin ein erneutes Umdenken in Berlin? Bei den Mardern half Paris nach. Bei den Leoparden könnte die britische Regierung diesen Part übernehmen. London, so hört man, plane bereits den Export von Challenger-2-Kampfpanzern.

Gibt es Alternativen? Wie steht es um die Kraft der Diplomatie? In einem internen Positionspapier für die in dieser Woche veranstaltete SPD-Fraktionsklausur heißt es, Kriege würden »in der Regel nicht auf dem Schlachtfeld entschieden«. »Falsch«, konterte der Diplomat Melnyk auf Twitter und merkte süffisant an: »Deutschland sollte das besser wissen.«

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