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Der unnötige Umzug von Mühlrose

Ein Dorf in der Lausitz soll als letzter Ort in Deutschland der Braunkohle weichen – doch die Notwendigkeit ist nicht mehr zu begründen

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

»Anno 1924« stand über der Bühne des Gasthofs »Zur Erholung« in Mühlrose. Das Lokal mit seinem prächtig ausgemalten Saal wäre bald 100 Jahre alt geworden. Doch der Bau erlebte das Jubiläum nicht mehr. Er wurde 2021 abgerissen. Der Grund: Das vor 650 Jahren erstmals erwähnte Dorf, das im Norden des Landkreises Görlitz und mitten im Siedlungsgebiet der Sorben liegt, soll einem Braunkohletagebau weichen. So sehen es die Planungen des Kohleförderers Leag vor. Mühlrose wäre der 138. Ort in der Lausitz, der wegen der Kohle von der Landkarte verschwindet – und nach Lützerath der letzte in Deutschland, bevor die Förderung und Verstromung des klimaschädlichen Energieträgers eingestellt wird.

Verwaist sein soll Mühlrose bereits Ende 2024. So sieht es ein Vertrag vor, der im März 2019 im Saal der »Erholung« von der Leag sowie den Bürgermeistern von Mühlrose und Schleife unterzeichnet wurde. In dem Nachbarort entsteht derzeit eine neue Siedlung, in die ein Gutteil der 200 Einwohner von Mühlrose umziehen will. Das Richtfest für ein neues Dorfgemeinschaftshaus wurde bereits gefeiert. Später sollen ein Glockenturm und ein Kriegerdenkmal in die Neubausiedlung umgesetzt werden.

Bei den zahlreichen Gästen der Vertragsunterzeichnung herrschte keine Trauer über den Verlust der Heimat, sondern Erleichterung. Es sei eine jahrzehntelange »Hängepartie« beendet worden, sagte der Bürgermeister. Nachdem bereits 1966 und 1972 erste Familien wegen der Kohle ihre Häuser hatten aufgeben müssen, wendete sich das Schicksal des Ortes mehrfach. In der DDR durften Privatleute wegen der geplanten Abbaggerung nicht investieren, nach 1990 schien der Ort gerettet, dann hieß es, die darunter liegenden 150 Millionen Tonnen Kohle würden doch gebraucht. Die Unsicherheit zermürbte viele Bewohner und zerrüttete die Dorfgemeinschaft. 2006 stimmte bei einer Umfrage die Mehrheit für den Umzug, dessen Regularien 2019 besiegelt wurden. Gleichzeitig ist eine Minderheit fest entschlossen, im Dorf zu bleiben: »So lange, bis wir sterben«, wie das 84-jährige Ehepaar Zech beteuert.

Wenn es hart auf hart käme, könnte die Leag derlei Verweigerer einer Umsiedlung enteignen lassen. Womöglich kommt es dazu aber nie. Denn zum einen hält das Unternehmen zwar in seinem Revierkonzept von 2020 an der Abbaggerung des Ortes fest. Es hat die dafür notwendige behördliche Genehmigung aber bislang nicht einmal beantragt, geschweige denn erhalten. Der Rahmenbetriebsplan für den Tagebau Nochten sei derzeit bis Ende 2026 befristet, erklärte Sachsens Wirtschaftsministerium im März 2022 auf Anfrage von Daniel Gerber, Energieexperte der Landtags-Grünen. Für das Abbaufeld Nochten 1 sei eine Verlängerung bis 2030 beantragt. Für das Teilfeld Mühlrose indes liege dem sächsischen Oberbergamt »bisher kein vollständiger Antrag … vor«. Das ist laut Gerber auch jetzt noch der aktuelle Stand.

Zum anderen wird inzwischen auch für die ostdeutschen Kohlereviere sehr ernsthaft über ein Vorziehen des Kohleausstiegs von 2038 auf 2030 debattiert, weil ein längerer Betrieb mit den deutschen Klimazielen nicht zu vereinbaren ist. In Sachsen geht der Riss mitten durch die Koalition: Die CDU ist strikt dagegen, die Grünen vehement dafür. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) geht davon aus, dass in der Lausitz 600 Millionen Tonnen Kohle verfügbar seien jenseits der Menge unter Mühlrose. Selbst bei einem Kohleausstieg 2038 werde diese Menge nicht gänzlich benötigt. Bei einem Ausstieg 2030 seien sogar nur rund 450 Millionen Tonnen nötig, sagt DIW-Experte Pao-Yu Oei. Es gebe keine Notwendigkeit für die Abbaggerung von Mühlrose, sagte er bei einer Anhörung im sächsischen Landtag im Juni und betonte, daran ändere selbst die zeitweise erhöhte Nachfrage nach Kohlestrom durch den Krieg in der Ukraine nichts.

Wie sich eine um acht Jahre verkürzte Restlaufzeit der Kohlekraftwerke in der Lausitz auf Mühlrose auswirken würde, ist offen. Der Landesregierung seien »mögliche Folgen eines auf 2030 vorgezogenen Kohleausstiegs bisher nicht bekannt«, schrieb SPD-Wirtschaftsminister Martin Dulig auf Gerbers Anfrage. Der Grüne wiederum betont: »Mühlrose darf der Braunkohlenverstromung nicht zum Opfer fallen.« Diese sei nicht nur klimaschädlich, sondern auch zunehmend unrentabel. Angesichts all dieser Argumente habe im Streit um die Zukunft des Ortes jedenfalls »der Rechtfertigungsdruck gewechselt«, sagte Jörg Michel, der als Pfarrer im Ort tätig ist. Lange habe die umzugsunwillige Minderheit erklären müssen, warum sie sich den Baggern entgegenstellt. Nun müssten Leag und Behörden begründen, warum ein jahrhundertealter Ort weichen soll, obwohl die darunter liegende Kohle für die Sicherung von Jobs und Energieversorgung nicht mehr erforderlich sei. Vielleicht kommt es in Mühlrose zu einer erneuten Kehrtwende. Es würde ihn, sagt der Pfarrer, jedenfalls »nicht wundern«, wenn der zum Umzug vorgesehene Glockenturm doch an seinem jetzigen Standort bleibt.

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